Leitsatz
Ein sich aus dem Unionsrecht entsprechend dem EuGH-Urteil Reemtsma vom 15.03.2007 – C-35/05 (EU:C:2007:167) ergebender Direktanspruch setzt voraus, dass der Rechnungsaussteller eine Leistung an den Rechnungsempfänger erbracht hat, für die er Umsatzsteuer in der Rechnung zu Unrecht ausgewiesen hat.
Normenkette
§ 1 UStG, § 163 AO
Sachverhalt
Die aufgrund ihrer Umsatztätigkeit dem Grunde nach zum Vorsteuerabzug berechtigte Klägerin machte den Vorsteuerabzug aus Rechnungen geltend, die das Einzelunternehmen HC, Inhaberin GM, mit Steuerausweis erteilt hatte. Die Rechnungen standen im Zusammenhang mit Tätigkeiten, die ihr Ehemann JM für die Klägerin ausgeübt hatte.
Das FA ging davon aus, dass es sich bei den von HC abgerechneten Leistungen um Leistungen einer für die Klägerin als Arbeitnehmer tätigen Person gehandelt habe und daher der Klägerin der Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der HC zu versagen sei. Eine gegen die Versagung des Vorsteuerabzugs gerichtete Klage hatte keinen Erfolg.
Die Klägerin beantragte beim FA, unter Berufung auf das EuGH-Urteil Reemtsma (a.a.O.), die Vorsteuer aus den Eingangsrechnungen der HC im Billigkeitswege zum Vorsteuerabzug zuzulassen. Einspruch und Klage zum FG (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.8.2016, 7 K 7246/14, Haufe-Index 9835717, EFG 2016, 1829) hatten keinen Erfolg.
Entscheidung
Der BFH bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz. Der bloße Steuerausweis in einer Rechnung genüge nicht für die Entstehung des Direktanspruchs. Erforderlich sei vielmehr, dass der Rechnungsaussteller auch eine Leistung erbracht habe, für die mangels Steuerbarkeit oder aufgrund einer Steuerfreiheit oder Steuersatzermäßigung die in der Rechnung ausgewiesene Steuer nicht gesetzlich entstanden ist.
Hinweis
1. Hat ein nach seiner Unternehmenstätigkeit zum Vorsteuerabzug berechtigter Rechnungsempfänger eine gesetzlich nicht geschuldete, aber gleichwohl in einer – ansonsten ordnungsgemäßen – Rechnung ausgewiesene Umsatzsteuer gezahlt, kann er im Rahmen eines sog. Direktanspruchs entsprechend dem EuGH-Urteil Reemtsma (EuGH, Urteil vom 15.3.2007, C-35/05, Haufe-Index 1718623, EU:C:2007:167) eine "Rückzahlung" von der Finanzverwaltung verlangen, wenn eine Rückforderung vom Rechnungsaussteller insbesondere im Hinblick auf dessen Zahlungsunfähigkeit übermäßig erschwert ist. Hierüber ist im Billigkeitsverfahren nach § 163 AO zu entscheiden.
2. Der BFH sieht es für den Direktanspruch als erforderlich an, dass der Rechnungsaussteller die in der Rechnung als steuerpflichtig abgerechnete Leistung auch erbracht hat. Er begründet dies damit, dass der EuGH in seiner Rechtsprechung zum Direktanspruch auf eine Rechnungserteilung mit Steuerausweis durch einen "Dienstleistungserbringer" (EuGH, Urteil vom 15.3.2007, Reemtsma, a.a.O., Rz. 41, und EuGH, Urteil vom 20.10.2011, C-94/10, Danfoss und Sauer-Danfoss, Haufe-Index 2760332, EU:C:2011:674, Rz. 26), durch einen "Veräußerer/Dienstleistungserbringer" (EuGH, Urteil vom 15.12.2011, C-427/10, Banca Antoniana Popolare Veneta, BFH/NV 2012, 365, EU:C:2011:844, Rz. 23), durch einen "Verkäufer eines Gegenstands" (EuGH, Urteil vom 26.4.2017, C-564/15, Farkas, BFH/NV 2017, 1005, EU:C:2017:302, Rz. 51) oder durch einen "Lieferer" (EuGH, Urteil vom 31.5.2018, C-660/16, Kollroß, Haufe-Index 11754144, EU:C:2018:372, Rz. 66) abstellt.
Damit genügt der bloße Steuerausweis in einer Rechnung für die Entstehung des Direktanspruchs nicht. Erforderlich ist vielmehr zusätzlich, dass der Rechnungsaussteller eine Leistung erbracht hat, für die mangels Steuerbarkeit oder aufgrund einer Steuerfreiheit oder Steuersatzermäßigung die in der Rechnung ausgewiesene Steuer nicht gesetzlich entstanden ist. Hieran fehlt es, wenn der Rechnungsaussteller überhaupt keine Leistung erbracht hat und die Rechnung sich auf die Leistung eines für den Rechnungsempfänger als Arbeitnehmer tätige Person bezieht.
3. Der BFH geht zudem davon aus, dass sich der aus der Reemtsma-Rechtsprechung ergebende Direktanspruch gegen das eigene FA des Rechnungsempfängers richtet.
4. Aufgrund der Verneinung des Direktanspruchs musste sich der BFH nicht mit weitergehenden Fragen befassen. Wäre der Direktanspruch dem Grunde nach zu bejahen, stellt sich z.B. auch die Frage, ob der Direktanspruch zu einer Verschiebung von Insolvenzrisiken führen kann. So könnte sich die Finanzverwaltung im Fall der Insolvenz des Rechnungsausstellers zwei konkurrierenden Ansprüchen ausgesetzt sehen, wenn zum einen der Rechnungsempfänger den Direktanspruch geltend macht, während zum anderen der Insolvenzverwalter des Rechnungsausstellers aufgrund einer Berichtigung im Rahmen des § 14c UStG vom FA Vergütung in die Masse verlangt. Es wäre dann zu entscheiden, welchen dieser Ansprüche das FA zu erfüllen hat.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 22.8.2019 – V R 50/16