Leitsatz
1. Ist für eine Organgesellschaft entgegen § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG eine Steuerfestsetzung ergangen, ergibt sich hieraus eine Drittwirkung i.S. von § 166 AO. Der Organträger kann dann keinen Vorsteuerabzug aus Eingangsleistungen geltend machen, die von Dritten über die Organgesellschaft bezogen wurden. Das Recht des Organträgers, die Nichtbesteuerung von Innenleistungen geltend zu machen, die er an die Organgesellschaft erbracht hat, bleibt unberührt.
2. Bei einer Rechtsprechungsänderung können Organträger und Organgesellschaften nicht beanspruchen, im selben Besteuerungszeitraum für den einen Unternehmensteil (hier: Organgesellschaft) auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung und für den anderen Unternehmensteil (hier: Organträger) nach der geänderten Rechtsprechung besteuert zu werden.
Normenkette
§ 33, § 43, § 166 AO, § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG, Art. 11 EGRL 112/2006 (= MwStSystRL)
Sachverhalt
Der Kläger, ein Einzelunternehmen, ging in Übereinstimmung mit dem FA davon aus, dass er gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG Organträger der PL‐GmbH und der PR‐GmbH war. Beide GmbHs erbrachten steuerbare Leistungen gegen Entgelt an drei KGs (C‐KG, P‐KG und R‐KG), bei denen der Kläger jeweils einziger Kommanditist sowie Alleingesellschafter und einziger Geschäftsführer der jeweiligen Komplementär-GmbH war. Dabei handelte es sich in Bezug auf die C‐KG um die C‐GmbH und in Bezug auf die beiden anderen KGs um die F‐GmbH. Für das Streitjahr 2008 setzte das FA die USt für die C‐KG mit Bescheid vom 17.1.2012 auf ./. 2.140.477,81 EUR, für die P‐KG durch Bescheid vom 4.8.2010 auf 0 EUR und für die R‐KG mit Bescheid vom 19.3.2015 auf ./. 89.011,20 EUR fest. Für das Streitjahr 2009 setzte das FA die USt für die C‐KG mit Bescheid vom 17.1.2012 auf ./. 410.276,39 EUR und für die R‐KG mit Bescheid vom 19.3.2015 auf 3.192 EUR fest. Für die P‐KG erging bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung für das Jahr 2009 kein Steuerbescheid. Bei Erlass der jeweiligen Steuerbescheide blieb der Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 AO bei der C‐KG bestehen, während er bei der R‐KG aufgehoben wurde. Der Kläger gab für das Streitjahr 2008 eine Jahreserklärung mit einem Vergütungsbetrag von 813.176,98 EUR und für das Streitjahr 2009 eine Jahreserklärung mit einem Vergütungsbetrag von 369.009,44 EUR ab. Das FA stimmte den Mitteilungen vom 10.3.2010 und 16.9.2011 zu. Am 16.10.2013 beantragte der Kläger die Änderung seiner USt-Festsetzungen 2008 und 2009, da er gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG auch Organträger der drei KGs gewesen sei. Diesen Antrag lehnte das FA durch Bescheid vom 24.10.2013 ab. Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein.
Das FA wies beide Einsprüche mit Einspruchsentscheidung vom 30.8.2017 als unbegründet zurück. Eine Änderung zugunsten des Klägers sei nur möglich, wenn die Steuerfestsetzungen bei den KGs noch änderbar seien. Dies komme aber nicht mehr in Betracht, da für alle drei KGs spätestens mit Ablauf des 31.12.2016 Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Bei der C‐KG sei die Festsetzungsfrist für beide Jahre (aufgrund der im Jahr 2010 abgegebenen Jahreserklärungen) zum 31.12.2014, bei der R‐KG aufgrund von Änderungsbescheiden für beide Jahre am 23.4.2015 und bei der P‐KG für 2008 zum 31.12.2015 und für 2009 zum 31.12.2016 abgelaufen. Daher komme auch eine Hinzuziehung nach § 174 Abs. 5 AO nicht mehr in Betracht. Die Klage beim FG hatte Erfolg (FG Münster, Gerichtsbescheid vom 7.4.2020, 15 K 3019/17 U, Haufe-Index 13913275).
Entscheidung
Der BFH hob das Urteil des FG auf und verwies die Sache an das FG zurück. Das FG habe bei seinem Urteil die Drittwirkung der Steuerfestsetzung nach § 166 AO nicht beachtet. In einem zweiten Rechtsgang seien Feststellungen zum Umfang der Innenleistungen nachzuholen.
Hinweis
1. Die umsatzsteuerrechtliche Organschaft befindet sich im Umbruch.
a) Die durch die BFH-Rechtsprechung geprägte alte Welt der Organschaft konnte in ihrem Anwendungsbereich als zu eng empfunden werden, führte aber für alle Beteiligten zu eindeutigen Verhältnissen. Erforderlich war im Regelfall eine finanzielle Mehrheitsbeteiligung eines Unternehmers an einem anderen Unternehmen in der Rechtsform einer juristischen Person, organisatorisch eine personelle Verflechtung über die Geschäftsführung dieser Person sowie wirtschaftlich eine mehr als nur unwesentliche Verbindung der Unternehmensbereiche der beiden Beteiligten.
b) Die neue Welt der Organschaft, wie sie sich aus der neueren EuGH-Rechtsprechung zur sog. Mehrwertsteuergruppe ergibt (vgl. zuletzt EuGH, Urteil vom 15.4.2021, C-868/19 – FA Berlin für Körperschaften, ECLI:EU:C:2021:285, BFH/NV 2021, 925), sieht anders aus. Die Organgesellschaft muss keine juristische Person mehr sein. Das bisher für die BFH-Rechtsprechung jahrzehntelang prägende Kriterium des Über- und Unterordnungsverhältnisses wird vom EuGH ebenso missbilligt wie die Eingrenzung der Organschaft auf Unternehmer.
c) Dem liegen völlig unterschiedliche Vorstellungen zur Bedeutung der Organschaft (Mehrwertsteuergruppe) zugru...