Leitsatz
Bei der Frage, ob Ehegatten die Einkunftsgrenzen (relative oder absolute Wesentlichkeitsgrenze) für das Wahlrecht zur Zusammenveranlagung in Fällen der fiktiven unbeschränkten ESt-Pflicht (§ 1 Abs. 3 EStG) wahren, ist im Rahmen einer einstufigen Prüfung nach § 1a Abs. 1 Nr. 2 EStG auf die Einkünfte beider Ehegatten abzustellen und der Grundfreibetrag zu verdoppeln (gegen R 1 EStR 2012).
Normenkette
§ 1 Abs. 3, § 1a Abs. 1 Nr. 2, § 49 Abs. 1 Nrn. 7 und 10 EStG, Art. 18 Abs. 1 und 2 DBA-Österreich 2000
Sachverhalt
Der Kläger lebte im Streitjahr (2009) zusammen mit seiner Ehefrau (EF) in Österreich. Beide sind österreichische Staatsbürger.
EF hatte im Streitjahr keine Einkünfte erzielt. Für den Kläger ergaben sich hingegen sog. Welteinkünfte i.H.v. 18.791,83 EUR. Hierzu gehörte die von der Deutschen Rentenversicherung Bund bezogene Leibrente, deren im Inland steuerpflichtiger Ertragsanteil sich nach Abzug des anteiligen Werbungskostenpauschbetrags auf 8.977 EUR belief (§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa, § 49 Abs. 1 Nr. 7, § 9a Satz 1 Nr. 3 EStG i.V.m. Art. 18 Abs. 2 DBA-Österreich 2000). Zu den weiteren, nur in Österreich steuerpflichtigen Einkünften (insgesamt: 9.814,83 EUR) gehörten neben Leistungen der betrieblichen Altersversorgung aus der früheren Arbeitnehmertätigkeit des Klägers bei einem (inländischen) Arbeitgeber Leistungen der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt.
Die Eheleute beantragten bezüglich der im Inland steuerpflichtigen Renteneinkünfte für das Streitjahr die Zusammenveranlagung. Dem Antrag war eine Bescheinigung EU/EWR des zuständigen österreichischen Finanzamts beigefügt, nach der im Rahmen der Veranlagung in Österreich Einkünfte i.H.v. 15.347,21 EUR angesetzt worden sind.
Das FA hat den Antrag abgelehnt und den Kläger mit seinen Einkünften aus der gesetzlichen Rentenversicherung als beschränkt einkommensteuerpflichtig veranlagt.
Die dagegen gerichtete Klage des Klägers war erfolgreich (FG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 15.1.2014, 1 K 385/11, Haufe-Index 6628401, EFG 2014, 1106).
Entscheidung
Auch der BFH gab dem Kläger recht. Für die Berechnung der Wesentlichkeitsgrenzen nach § 1 Abs. 3 EStG sei auf die Einkünfte beider Ehegatten abzustellen und der Grundfreibetrag nach Maßgabe des § 1a Abs. 1 Nr. 2 EStG zu verdoppeln. Die "Wesentlichkeitshürde" würde von dem Kläger deshalb "genommen" und der Splittingvorteil sei ihm zu gewähren.
Hinweis
Die Entscheidung knüpft an das erst kürzlich ergangene Urteil vom 1.10.2014, I R 18/13 (BStBl II 2015, 474, BFH/NV 2015, 387, BFH/PR 2015, 71) an und ist dazu gewissermaßen ein "Remake":
1. Beanspruchen Eheleute den Vorteil des Ehegattenssplittings gemäß §§ 26, 26b EStG, dann schadet es zwar nicht, wenn einer der Ehegatten in einem anderen EG-Mitgliedstaat wohnt. Gleiches gilt, wenn der eine oder der andere Ehegatte im Inland arbeitet und unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 EStG beantragt, im Inland als fiktiv unbeschränkt steuerpflichtig behandelt zu werden.
2. Erforderlich für letzteres ist aber, dass die Eheleute die Einkunftsgrenzen des § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG einhalten. Und danach dürfen die Einkünfte beider Ehegatten im Kalenderjahr – erstens (= relativ) – mindestens zu 90 % der deutschen ESt unterliegen oder – zweitens (= absolut) – die nicht der deutschen ESt unterliegenden Einkünfte den Betrag von 12.272 EUR nicht übersteigen.
3. Seinerzeit – im Urteil vom 1.10.2014, I R 18/13 (BStBl II 2015, 474, BFH/NV 2015, 387, BFH/PR 2015, 71) – war der BFH bereits mehr oder weniger stillschweigend (und im rechnerischen) Ergebnis davon ausgegangen, dass es für die besagten Grenzwerte nicht auf den jeweiligen Ehegatten ankommt, um die begehrte Zusammenveranlagung zu erlangen. Dafür genüge es vielmehr, auf die Einkünfte beider Ehegatten abzustellen und den Grundfreibetrag zu verdoppeln. Das wurde vom BFH nunmehr nochmals und explizit hervorgehoben und klargestellt. Die entgegenstehende Verwaltungsanweisung in R 1 EStR 2012 wird damit verworfen.
Tragend für die Entscheidung waren sowohl der Regelungstext als auch die Regelungssystematik und der Regelungszweck. § 1 Abs. 3 i.V.m. § 1a Abs. 1 Nr. 2 EStG verlangt es nicht, auf die Verhältnisse des einzelnen Ehegatten abzustellen. Text wie Systematik legen es näher, unter Ansatz des doppelten Grundfreibetrags beide Ehegatten einzubeziehen. Da sich allein diese Sichtweise mit den unionsrechtlichen Anforderungen verträgt, dürfte es schwerfallen, das Urteil durch eine etwaige Regelungsnovellierung "gegenzukorrigieren".
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 6.5.2015 – I R 16/14