2.1 Anwendungsbereich
Die zentrale Bestimmung ist § 198 GVG, der die Voraussetzungen normiert, unter denen ein Betroffener wegen eines überlangen Verfahrens Ansprüche geltend machen kann.
Eine Entschädigung kommt grundsätzlich in Betracht
- wegen überlanger Gerichtsverfahren,
- wegen überlanger Strafverfahren; hier ist Normadressat vor allem die Staatsanwaltschaft, aber in Steuerstrafverfahren auch die Finanzbehörde.
Geltend machen kann den Anspruch auf eine Entschädigung ein Verfahrensbeteiligter. Dies wird regelmäßig der Kläger sein, es kann aber z. B. auch ein Beigeladener als Verfahrensbeteiligter in Betracht kommen. Kein Verfahrensbeteiligter i. S. d. §§ 198 ff. GVG ist allerdings der Privatkläger in einem Strafverfahren. Keinen Anspruch kann die Finanzbehörde aufgrund eines überlangen Gerichtsverfahrens geltend machen, da sie selber nicht Grundrechtsträger ist. Keine Anwendung finden die Bestimmungen damit bedauerlicher Weise bei überlangen Verwaltungsverfahren. Die Geltendmachung eines Anspruchs nach den §§ 198ff. GVG schließt die Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruchs nicht aus.
2.2 Überlange Verfahrensdauer
§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG normiert den zentralen Grundsatz der Entschädigungsregelungen: Hiernach wird derjenige, der infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, angemessen entschädigt.
Die erste ganz zentrale Frage in der Anwendung der Entschädigungsregelung ist somit, wann ein Gerichtsverfahren eine unangemessene Dauer hat. Dies lässt sich nicht allgemein gültig beantworten, wie auch dem Gesetzgeber bewusst war, sondern nur anhand der Umstände im jeweiligen Einzelfall. Das Gesetz versucht denn auch gar nicht, eine allgemein gültige Formulierung für die unangemessene Dauer eines Verfahrens zu normieren, sondern führt in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG aus, dass sich die Angemessenheit im Einzelfall insbesondere richtet nach:
- der Schwierigkeit des Falles; dies erscheint ohne Zweifel plausibel, da z. B. eine diffizile Sachverhaltsermittlung schnell zu erheblichen Verzögerungen führen kann;
- der Bedeutung des Verfahrens für die Beteiligten; hier ist z. B. an Fälle einer drohenden wirtschaftlichen Existenzvernichtung zu denken, in denen eine schnelle Entscheidung wichtig ist; sowie
- das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
Keine Bedeutung soll hingegen haben, ob das Gericht die Verzögerung schuldhaft verursacht hat.
Weitere Vorgaben, wann eine Verfahrensdauer unangemessen ist, sind im Gesetz nicht normiert. Allerdings ist in der Literatur der Hinweis zu finden, dass für die Auslegung des Begriffs der Angemessenheit einer Verfahrensdauer auf die Rechtsprechung des EGMR zurückgegriffen werden kann. Der EGMR geht dabei davon aus, dass grundsätzlich in einem Hauptsacheverfahren eine Dauer von 1 Jahr pro Instanz angemessen ist. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sind die angemessenen Fristen regelmäßig kürzer. Zudem kennt die Rechtsprechung des EGMR eine absolute Höchstdauer, bei der grundsätzlich von einer unangemessenen Dauer ausgegangen wird. Diese liegt bei 8 bis 10 Jahren Verfahrensdauer.
Für den Finanzgerichtsprozess wird deshalb in der Literatur auf der Grundlage der Rechtsprechung des EGMR von einer angemessenen Frist von rund 1 Jahr nach der Klageerhebung ausgegangen, bevor eine etwaige Verzögerungsrüge (hierzu weiter unten) zu prüfen ist. Dieses Jahr ist in einem Finanzgerichtsprozess – wie jeder Praktiker weiß – schnell verstrichen. Allerdings sind die Umstände des Einzelfalles hierbei von maßgeblicher Bedeutung. Das 1 Jahr dürfte deshalb nur dann grundsätzlich Anwendung finden, wenn der Fall im Wesentlichen durch die Prozessbeteiligten dargelegt worden ist.
Seit der Schaffung der Regelung sind verschiedene Entscheidungen des BFH zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der unangemessenen Dauer ergangen. Hiernach ist von einer Unangemessenheit nur dann auszugehen, wenn eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenze der Angemessenheit vorliegt. Wann diese der Fall ist, lässt sich nur anhand der Umstände im jeweiligen Einzelfall ermitteln. Bei einem finanzgerichtlichen Verfahren, das keine wesentlichen Besonderheiten au...