§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG normiert den zentralen Grundsatz der Entschädigungsregelungen: Hiernach wird derjenige, der infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, angemessen entschädigt.
Die erste ganz zentrale Frage in der Anwendung der Entschädigungsregelung ist somit, wann ein Gerichtsverfahren eine unangemessene Dauer hat. Dies lässt sich nicht allgemein gültig beantworten, wie auch dem Gesetzgeber bewusst war, sondern nur anhand der Umstände im jeweiligen Einzelfall. Das Gesetz versucht denn auch gar nicht, eine allgemein gültige Formulierung für die unangemessene Dauer eines Verfahrens zu normieren, sondern führt in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG aus, dass sich die Angemessenheit im Einzelfall insbesondere richtet nach:
- der Schwierigkeit des Falles; dies erscheint ohne Zweifel plausibel, da z. B. eine diffizile Sachverhaltsermittlung schnell zu erheblichen Verzögerungen führen kann;
- der Bedeutung des Verfahrens für die Beteiligten; hier ist z. B. an Fälle einer drohenden wirtschaftlichen Existenzvernichtung zu denken, in denen eine schnelle Entscheidung wichtig ist; sowie
- das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
Keine Bedeutung soll hingegen haben, ob das Gericht die Verzögerung schuldhaft verursacht hat.
Weitere Vorgaben, wann eine Verfahrensdauer unangemessen ist, sind im Gesetz nicht normiert. Allerdings ist in der Literatur der Hinweis zu finden, dass für die Auslegung des Begriffs der Angemessenheit einer Verfahrensdauer auf die Rechtsprechung des EGMR zurückgegriffen werden kann. Der EGMR geht dabei davon aus, dass grundsätzlich in einem Hauptsacheverfahren eine Dauer von 1 Jahr pro Instanz angemessen ist. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sind die angemessenen Fristen regelmäßig kürzer. Zudem kennt die Rechtsprechung des EGMR eine absolute Höchstdauer, bei der grundsätzlich von einer unangemessenen Dauer ausgegangen wird. Diese liegt bei 8 bis 10 Jahren Verfahrensdauer.
Für den Finanzgerichtsprozess wird deshalb in der Literatur auf der Grundlage der Rechtsprechung des EGMR von einer angemessenen Frist von rund 1 Jahr nach der Klageerhebung ausgegangen, bevor eine etwaige Verzögerungsrüge (hierzu weiter unten) zu prüfen ist. Dieses Jahr ist in einem Finanzgerichtsprozess – wie jeder Praktiker weiß – schnell verstrichen. Allerdings sind die Umstände des Einzelfalles hierbei von maßgeblicher Bedeutung. Das 1 Jahr dürfte deshalb nur dann grundsätzlich Anwendung finden, wenn der Fall im Wesentlichen durch die Prozessbeteiligten dargelegt worden ist.
Seit der Schaffung der Regelung sind verschiedene Entscheidungen des BFH zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der unangemessenen Dauer ergangen. Hiernach ist von einer Unangemessenheit nur dann auszugehen, wenn eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenze der Angemessenheit vorliegt. Wann diese der Fall ist, lässt sich nur anhand der Umstände im jeweiligen Einzelfall ermitteln. Bei einem finanzgerichtlichen Verfahren, das keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, spricht indes die Erfahrung laut BFH dafür, dass noch von einer Angemessenheit auszugehen ist, wenn das Gericht etwa 2 Jahre nach dem Eingang der Klage in die Entscheidungsphase tritt. Der BFH geht also über die in der Literatur oftmals genannte Jahresfrist hinaus. Diese Vermutung der Angemessenheit bei einem Eintritt in die Entscheidungsphase innerhalb von 2 Jahren hat der BFH in weiteren Entscheidungen bestätigt. Diese gilt nicht, wenn eine besondere Eilbedürftigkeit besteht. Eine Verfahrensdauer von 34 Monaten hat er allerdings bei einem Verfahren von durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad als unangemessen lang angesehen. Auch eine Verfahrensdauer von fünfeinhalb Jahren sei unangemessen lang, gleichfalls eine 77-monatige Dauer in einem überdurchschnittlich schwierigen Verfahren. Eine Verfahrensdauer von 27 Monaten hingegen nicht. Die Entscheidung des BFH über eine Nichzulassungsbeschwerde soll regelmäßig innerhalb eines Jahres ergehen. Eine Frist von acht Monaten wird in einem PKH-Verfahren regelmäßig als noch nicht unangemessen angesehen. Mit seinen Entscheidungen darüber, was als unangemessene Verfahrensdauer anzusehen ist, sieht sich der BFH nicht im Widerspruch zu Entscheidungen anderer oberster Bundesgerichte.
Eine Verfahrensverlängerung, die durch die Corona-Pandemie verursacht worden ist, kann nach Auffassung des BFH nicht zu einem Entschädigungsanspruch führen. Begründet hat der BFH dies damit, dass die Schutzmaßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie getroffen wurden und die hier für die Verlängerung des Verfahrens ursächlich waren, kein spezifisches Problem der Justiz sind und zudem nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen sind. Diese Entscheidung ist sicherlich zutreffend, da gerade die Schutzmaßnahmen, die in der ersten Welle der Pandemie im Frühjahr 2020 angeordnet wurden, aus dem seinerzeitigen Kenntnis...