Leitsatz
Im Streitfall stellt sich die Frage, ob ein Steuerbescheid über einen eine Insolvenzforderung betreffenden Steueranspruch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erlassen und dem Insolvenzverwalter bekannt gegeben werden kann, wenn sich nach Abzug der Anrechnungsbeträge (Lohnsteuer, Kapitalertragsteuer) von der festgesetzten Einkommensteuer ein Erstattungsbetrag ergibt. Der BFH hat das BMF zum Beitritt zu diesem Verfahren aufgefordert (§ 122 Abs. 2 Satz 1 FGO).
Normenkette
§ 122 Abs. 2 Satz 1 FGO
Sachverhalt
Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen des S. Nach der vom Kläger erstellten und von S und seiner Ehefrau unterschriebenen Einkommensteuererklärung ergab sich eine festgesetzte Einkommen-steuer von 28.942 EUR und unter Berücksichtigung einbehaltener Lohnsteuer sowie Kapitalertragsteuer ein Erstattungsbetrag von 2.454 EUR. Einspruch und Klage vor dem FG (FG Düsseldorf, Urteil vom 4.10.2018, 11 K 1921/16 E, Haufe-Index 12466857, EFG 2018, 2055) hatten keinen Erfolg.
Entscheidung
Der BFH hat das BMF zum Beitritt und zur Stellungnahme aufgefordert.
Hinweis
Immer häufiger veröffentlicht der BFH den Beschluss, mit dem das BMF zum Beitritt in einem Revisionsverfahren aufgefordert wird. Er will damit die Öffentlichkeit auf das Verfahren und die offene Rechtsfrage aufmerksam machen. Außerdem eröffnet diese Praxis interessierten Kreisen die Möglichkeit, sich noch vor der Entscheidung im Fachschrifttum zu positionieren. Im zu besprechenden Fall enthält schon der Beitrittsaufforderungsbeschluss eine ausführliche Einordnung:
1. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens darf ein Steuerbescheid nicht mehr erlassen werden. Ein Steuerbescheid, der das Verbot der Selbsttitulierung verletzt, ist unwirksam. Von dieser Rechtsprechung nicht betroffen sind auf Null lautende Steuerbescheide und Steuerbescheide, in denen eine negative Umsatzsteuer festgesetzt wird.
2. Der Streitfall liegt anders. Dort ist eine positive Steuer festgesetzt worden. Unter Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen ergibt sich jedoch eine Erstattung. Will der Insolvenzverwalter den Erstattungsbetrag zur Masse ziehen, verlangt die Finanzverwaltung, dass er einen Antrag auf Steuerfestsetzung stellt. Im Schrifttum ist umstritten, ob ein solcher Steuerbescheid überhaupt wirksam ergehen kann.
3. Stellt man auf den Festsetzungsteil ab, müsste der Steuerbescheid unwirksam sein, da eine positive Steuer nicht mehr festgesetzt werden darf.
Anders kann man dies sehen, wenn es auf das Leistungsgebot ankommen sollte, denn insofern ergibt sich im Erstattungsfall keine Zahlungspflicht mehr. Das aber könnte fraglich sein, weil der Anrechnungsteil unabhängig von der Festsetzung geändert oder aufgehoben werden könnte. Denkbar ist, dass dann unter Umständen die Steuerfestsetzung stehenbliebe und am Ende so doch ein außerhalb der Tabelle entstandener Titel entstünde.
4. Unklar ist letztlich auch, was im Anrechnungsteil eigentlich geschieht: Wird dort eine Anrechnung nur deklaratorisch nachvollzogen, die kraft Gesetzes stattfindet oder hat die Anrechnung verfügenden Charakter, in dem dort sich wechselseitig gegenüberstehende Forderungen durch Erklärung des Finanzamts zur Anrechnung und teilweise zum Erlöschen gebracht werden. Handelt es sich mit anderen Worten um eine Art Aufrechnungserklärung? Dann wären eventuell auch die Vorschriften der InsO über die Aufrechnung zu beachten.
5. Dem Senat ist bekannt, dass die Finanzämter in der Praxis lediglich die sich nach Anrechnung aus dem Leistungsgebot ergebenden Zahlbeträge zur Tabelle anmelden. Wenn es dagegen auf die Steuerfestsetzung ankäme, müsste diese Praxis eventuell umgestellt werden. Dann müssten die Finanzämter die festgesetzte Steuer anmelden und eventuell sogar die anzurechnenden Beträge (Vorauszahlungen etc.) in voller Höhe zur Masse erstatten.
Derzeit keine Entscheidungstendenz erkennbar
Der Beschluss wirft lediglich Fragen auf. Auch diese Erläuterungen dürfen nicht dahingehend verstanden werden, dass sie eine bestimmte Tendenz bereits andeuten. Alle Antworten auf die gestellten Fragen sind derzeit noch vollkommen offen.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 30.6.2020 – IX R 27/18