Leitsatz
1. Musste das Jobcenter wegen unterlassener oder verzögerter Kindergeldzahlungen an den Kindergeldberechtigten höhere Leistungen erbringen, kann es gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 SGB X einen Erstattungsanspruch gegen die Familienkasse haben und können die Kindergeldansprüche des Berechtigten gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 SGB X als erfüllt gelten und gemäß § 47 AO erloschen sein.
2. Dies gilt nicht, wenn die Familienkasse das Kindergeld für den jeweiligen Monat im jeweiligen Monat ausgezahlt hat oder wenn die Familienkasse bereits selbst geleistet hat, bevor sie von der Leistung des Jobcenters Kenntnis erlangt hat.
3. Die Familienkasse hat von der Leistung des Jobcenters Kenntnis erlangt, sobald die Information, ab wann das Jobcenter Leistungen erbringt und es deshalb "Erstattung" gemäß §§ 102 ff. SGB X begehrt, in ihren Geschäftsgang gelangt ist; die Kenntnis des Sachbearbeiters ist nicht erforderlich.
4. Die Unkenntnis des Jobcenters von der Festsetzung und Zahlung des Kindergelds ist unerheblich; § 107 SGB X i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X stellt allein auf die rechtzeitige Erfüllung der Leistungsverpflichtung durch die Familienkasse ab.
Normenkette
§ 74 Abs. 2, § 31 Satz 3, §§ 62 ff., § 66 Abs. 2 EStG, § 37, § 47, § 218 AO, V 33.1 Satz 4 DA-KG 2017, V 34.1 Abs. 1 Satz 4 DA-KG 2021, § 19 SGB II, § 45 ff., §§ 102 ff., § 104, § 107, § 111 SGB X
Sachverhalt
Der Kläger bezog ALG II und ist Vater eines 2001 geborenen Kindes, das er im Februar 2016 in seinen Haushalt aufnahm. Kindergeld wurde zunächst nicht bewilligt.
Nach der Haushaltsaufnahme erhöhte das Jobcenter die Leistungen für die Bedarfsgemeinschaft. Der Kindergeldanspruch des Klägers wurde im Streitzeitraum – mangels Zuflusses zunächst zutreffend – nicht berücksichtigt. In der Folgezeit kam es zu zahlreichen Änderungen, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden; teilweise ließ sich der Sachverhalt nicht aufklären.
Zuletzt erging ein an den Kläger gerichteter Rückforderungsbescheid für Mai 2016 bis Mai 2017 i.H.v. 2.480 EUR, weil dieser Kindergeld erhalten habe, das an das Jobcenter zu erstatten sei.
Die dagegen gerichtete Klage führte zur Aufhebung des Abrechnungsbescheids durch das FG (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.12.2019, 2 K 1817/17).
Entscheidung
Die Revision war teilweise begründet, weil das FG den Abrechnungsbescheid zu Unrecht aufgehoben und nicht abgeändert hatte. Darüber hinaus galten die Kindergeldansprüche des Klägers gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 SGB X für einige Monate des Streitzeitraums als erfüllt, sodass er gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 AO zur Rückzahlung des für diese Monate nachgezahlten Kindergelds verpflichtet war und für weitere Monate keine weiteren Ansprüche hatte.
Hinweis
Das Besprechungsurteil betrifft das sich aus der Anrechnung des Kindergelds auf Sozialleistungen ergebende Dreiecksverhältnis von Familienkasse, Sozialleistungsträger und Kindergeldberechtigtem. Dabei trifft man vornehmlich auf folgende Konstellationen:
Zwischen Bürger und Familienkasse wird gestritten, wenn die Familienkasse auf Sozialleistungen angerechnetes Kindergeld – z.B. wegen eines nicht mitgeteilten Ausbildungsabbruchs oder Haushaltswechsels – zurückfordert, die Sozialleistung aber nicht nachträglich erhöht werden kann (vgl. BFH, Urteil vom 13.9.2018, III R 48/17, BStBl II 2019, 189, BFH/NV 2019, 345, BFH/PR 2019, 100 zum Erlass der Rückforderung).
Sozialleistungsträger, die Sozialleistungen ohne Anrechnung von Kindergeld erbracht haben, beanspruchen von der Familienkasse die Erstattung nachträglich festgesetzten Kindergelds.
Soweit dem Sozialleistungsträger bereits ausgezahltes Kindergeld erstattet wird, fordert die Familienkasse das erstattete Kindergeld vom Kindergeldberechtigten zurück, falls es an diesen ausgezahlt worden war. Dagegen wehrte sich der Kläger des vorliegenden Verfahrens.
Der wesentliche Inhalt des Urteils ergibt sich aus den Leitsätzen.
1. Der Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Sozialleistungsträgers – hier das Jobcenter – setzt die nicht rechtzeitige Zahlung des Kindergelds voraus. Obwohl der Sozialleistungsträger regelmäßig am Monatsanfang zahlen muss, ist die Leistung der Familienkasse noch rechtzeitig, wenn sie im Laufe des Monats erfolgt. Dies gilt sogar dann, wenn das Kindergeld erst im Laufe des Monats festgesetzt wird.
2. Der Erstattungsanspruch scheidet auch dann aus, wenn die Familienkasse keine Kenntnis vom Erstattungsanspruch hat. Zur Verschaffung der Kenntnis braucht der Sozialleistungsträger der Familienkasse keine Einzelheiten wie die Höhe seiner Leistungen mitzuteilen. Ausreichend ist die Kenntnis der Familienkasse "als Institution", Kenntnis des zuständigen Sachbearbeiters ist nicht erforderlich.
3. Unrichtige Abrechnungsbescheide (§ 218 AO) sind in der Regel nicht aufzuheben, sondern vom FG – bezogen auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung – zu korrigieren.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 2.6.2022 – III R 9/21