Sachverhalt
Mit ihrer Klage hatte die EU-Kommission Frankreich einen Verstoß gegen Art. 96 und 98 Abs. 2 der MwStSystRL vorgeworfen. Frankreich habe zu Unrecht einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Anwaltsleistungen, die von den "avocats", den "avocats au Conseil d'État et à la Cour de Cassation" und den "avoués" erbracht werden, und deren Honorare vollständig oder teilweise durch den Staat im Rahmen der Prozesskostenhilfe gezahlt werden, angewendet. Diese Anwaltsleistungen fielen in keine der in Anhang III MwStSystRL enthaltenen Kategorien.
Gegen die drei Hauptargumente Frankreichs machte die Kommission geltend, dass die Rechtsweggarantie kein Grund sein könne, um vom Normalsteuersatz bei Anwaltsdienstleistungen abzuweichen, da diese Garantie stärker mit dem Umfang der vom Staat gewährten Hilfe zusammenhänge als mit dem gemeinschaftsweit einheitlich festgelegten Mehrwertsteuersatz. Des Weiteren reiche der soziale Charakter der Tätigkeiten nicht aus, um sie unter die anderen in Anhang III MwStSystRL genannten Dienstleistungskategorien zu subsumieren, bei denen eine Steuerermäßigung im Vergleich zum geltenden Normalsatz erlaubt sei. Schließlich wies die Kommission darauf hin, dass sowohl Art. 96 und 98 Abs. 2 MwStSystRL als auch Anhang III MwStSystRL nicht das Ziel verfolgten, Wettbewerbsverzerrungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern zu verhindern, die dieselben Waren und Dienstleistungen anbieten, sondern vielmehr das Ziel, eine schrittweise Angleichung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu erreichen, indem die geltenden Mehrwertsteuersätze einander angenähert und die Tätigkeiten einschränkt würden, für die ermäßigte Steuersätze gelten könnten.
Frankreich stützt den ermäßigten Steuersatz (5,5 %) für die genannten Rechtsanwaltsleistungen auf Kategorie 15 von Anhang III MwStSystRL, wonach die Mitgliedstaaten Umsätze von - durch die Mitgliedstaaten anerkannte - gemeinnützigen Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit, soweit sie nicht nach Art. 132, 135 und 136 MwStSystRL steuerfrei sind, dem ermäßigten Steuersatz unterwerfen können.
Entscheidung
Der EuGH hat Frankreich im Sinne der Klage verurteilt; die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes verstößt gegen das Gemeinschaftsrecht. Nach dem Urteil sind für die Abgrenzung der subjektiven Voraussetzungen einer Steuerbefreiung nach Art. 132 MwStSystRL und der subjektiven Voraussetzungen der Steuerermäßigung nach Kategorie 15 in Anhang III MwStSystRL die gleichen Kriterien anzuwenden. Nach der EuGH-Rechtsprechung verfügen die Mitgliedstaaten über ein Ermessen bei der Frage, ob sie bestimmten Einrichtungen sozialen Charakter zuerkennen. Dieses Ermessen wird u. a. dann überschritten, wenn ein Mitgliedstaat Einrichtungen als gemeinnützig anerkennt, um auf bestimmte von ihnen erbrachte Leistungen unter Verstoß gegen den ausdrücklichen Wortlaut von Kategorie 15 in Anhang III MwStSystRL einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden. Nach dieser Regelung dürfen die Mitgliedstaaten nicht auf alle gemeinnützigen Leistungen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden, sondern nur auf solche, die von Einrichtungen erbracht werden, die sowohl gemeinnützig als auch für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit tätig sind. Es reicht also nicht aus, wenn privatrechtlich organisierte Einrichtungen (wie Rechtsanwälte) - wie im Vorlagefall - auch Leistungen mit sozialem Charakter erbringen. Wenn eine Berufsgruppe wie Rechtsanwälte wegen der fehlenden Dauerhaftigkeit eines etwaigen sozialen Engagements nicht als gemeinnützig angesehen werden kann, ist Kategorie 15 von Anhang III MwStSystRL nicht erfüllt.
Vor dem Hintergrund des EuGH-Urteils vom 29.10.2009, C-246/08 (Kommission / Finnland) kann das vorliegende Urteil überraschen, weil es -mittelbar - Rechtsanwaltsleistungen, die vom Staat bezahlt werden, und vergleichbare Leistungen, für die die Klienten selbst aufkommen, gleichstellt. In der Rechtssache C-246/08 hatte der EuGH eine Klage der Kommission gegen Finnland zurückgewiesen und sich gegen eine solche Gleichstellung ausgesprochen. Bei dieser Klage ging es um die Unternehmereigenschaft staatlicher Rechtshilfebüros in Finnland bzw. um ihren Wettbewerb zu entsprechenden privatrechtlichen Einrichtungen. Die Kommission hatte mit ihrer Klage vorgetragen, dass Finnland gegen Art. 2 Abs. 1 bzw. und Art. 9 und 13 MwStSystRL verstoßen habe, indem Finnland auf die Rechtsberatung, die von den staatlichen Rechtshilfebüros (den dort angestellten öffentlichen Rechtsbeiständen) nach den Vorschriften über die Rechtshilfe gegen eine Teilvergütung erbracht werden, keine Mehrwertsteuer erhebt, während die entsprechenden Dienstleistungen, die von privaten Rechtsbeiständen erbracht werden, mehrwertsteuerpflichtig sind. Der EuGH kam zu dem Ergebnis, dass die Kommission nicht nachgewiesen habe, dass die öffentlichen Rechtshilfebüros mit ihrer Tätigkeit, auf die sich die Klage bezog, eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt haben.
Hinweis
Das vorliegende Urteil ...