Entscheidungsstichwort (Thema)
Mitgliedstaat der Erhebung der Zollschuld, Zuwiderhandlung, Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Prüfung der Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der die Abgaben erhoben hat, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu bestimmen, ob zu dem Zeitpunkt, zu dem festgestellt wurde, dass die Sendung der Bestimmungsstelle nicht gestellt worden ist, der Ort der Zuwiderhandlung ermittelt werden konnte. Ist dies der Fall, kann nach Art. 203 Abs. 1 und Art. 215 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften der Mitgliedstaat als für die Erhebung der Zollschuld zuständig bestimmt werden, in dessen Gebiet die erste Zuwiderhandlung begangen wurde, die sich als Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung qualifizieren lässt. Konnte der Ort der Zuwiderhandlung hingegen nicht ermittelt werden, ist nach den Art. 378 und 379 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung Nr. 2913/92 für die Erhebung der Zollschuld der Mitgliedstaat zuständig, zu dem die Abgangsstelle gehört.
2. Ist eine Sendung der Bestimmungsstelle nicht gestellt worden und kann der Ort der Zuwiderhandlung nicht ermittelt werden, ist es allein Sache der Abgangsstelle, unter Beachtung der in Art. 379 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 2454/93 genannten Fristen von elf und von drei Monaten die vorgesehene Mitteilung vorzunehmen.
3. Der Umstand, dass ein Zollspediteur als Hauptverpflichteter für die Zollschuld haftbar gemacht wird, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Normenkette
EWGV 2913/92 Art. 203 Abs. 1, Art. 215 Abs. 1; EWGV 2454/93 Art. 378-379
Beteiligte
Tatbestand
„Zollunion ‐ Gemeinschaftliches Versandverfahren ‐ Erhebung der Zollschuld ‐ Zuständiger Mitgliedstaat ‐ Nachweis der ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens oder des Ortes der Zuwiderhandlung ‐ Fristen ‐ Haftung des Hauptverpflichteten“
In der Rechtssache C-230/06
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidung vom 12. Januar 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Mai 2006, in dem Verfahren
Militzer & Münch GmbH
gegen
Ministero delle Finanze
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas, der Richter U. Lõhmus, J. N. Cunha Rodrigues und A. Ó Caoimh sowie der Richterin P. Lindh (Berichterstatterin),
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2007,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Militzer & Münch GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt W. Wielander,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. Albenzio, avvocato dello Stato,
‐ der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J. Hottiaux und C. Zadra als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 215 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1, im Folgenden: Zollkodex) und der Art. 378 und 379 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung Nr. 2913/92 (ABl. L 253, S. 1, im Folgenden: Durchführungsverordnung) sowie die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Militzer & Münch GmbH (im Folgenden: M&M) und dem Ministero delle Finanze über die Erhebung von Zöllen.
Rechtlicher Rahmen
3
Art. 96 des Zollkodex lautet:
„(1) Der Hauptverpflichtete ist der Inhaber des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens. Er hat
a) die Waren innerhalb der vorgeschriebenen Frist unter Beachtung der von den Zollbehörden zur Nämlichkeitssicherung getroffenen Maßnahmen unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen;
b) die Vorschriften über das gemeinschaftliche Versandverfahren einzuhalten.
(2) Unbeschadet der Pflichten des Hauptverpflichteten nach Absatz 1 ist ein Warenführer oder Warenempfänger, der die Waren annimmt und weiß, dass sie dem gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegen, auch verpflichtet, sie innerhalb der vorgeschriebenen Frist unter Beachtung der von den Zollbehörden zur Nämlichkeitssicherung getroffenen Maßnahmen unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen.“
4
Die Art. 203 und 204 des Zollkodex sehen vor:
„Artikel 203
(1) Eine Einfuhrzollschuld entsteht,
‐ wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.
(2) Die Zollschuld entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.
(3) Zollschuldner s...