Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Recht zum Vorsteuerabzug. Berichtigung der Vorsteuerabzüge. Insolvenzverfahren. Nationale Regelung, die die automatische Versagung des Vorsteuerabzugs für vor der Eröffnung dieses Verfahrens liegende steuerbare Umsätze vorsieht
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 184, 186, 185
Beteiligte
Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Suceava u.a |
Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Suceava |
Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Iaşi |
Verfahrensgang
Curtea de Apel Suceava (Rumänien) (Beschluss vom 30.03.2020; ABl. EU 2020, Nr. C 297/22) |
Tenor
Die Art. 184 bis 186 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis entgegenstehen, wonach die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Wirtschaftsteilnehmers, das die Liquidation dieses Vermögens zugunsten der Gläubiger des Wirtschaftsteilnehmers impliziert, automatisch die Verpflichtung für diesen Wirtschaftsteilnehmer mit sich bringt, die Vorsteuerabzüge zu berichtigen, die er für Gegenstände und Dienstleistungen vorgenommen hat, die er vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen erworben hat, wenn die Eröffnung eines solchen Verfahrens der Fortführung der wirtschaftlichen Tätigkeit dieses Wirtschaftsteilnehmers im Sinne von Art. 9 der Richtlinie, namentlich zum Zweck der Liquidation des betreffenden Unternehmens, nicht entgegenstehen kann.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Suceava (Berufungsgericht Suceava, Rumänien) mit Entscheidung vom 30. März 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 23. April 2020, in dem Verfahren
BE,
DT
gegen
Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Suceava,
Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Iaşi,
Accer Ipurl Suceava als gerichtliche Liquidatorin von BE,
EP
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Wahl, der Präsidentin der Dritten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) und des Richters F. Biltgen,
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, R. I. Haţieganu und A. Wellman als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und P. Carlin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), insbesondere der Art. 184 bis 186.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BE – einem Unternehmen, über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist – und DT, der Gesellschafter und Geschäftsführer dieses Unternehmens ist, auf der einen und der Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Suceava (Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Suceava, Rumänien) und der Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Iaşi (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Iaşi, Rumänien) (im Folgenden zusammen: Steuerbehörden) sowie der Accer Ipurl Suceava, handelnd als gerichtliche Liquidatorin von BE, und EP auf der anderen Seite wegen des von den Steuerbehörden nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen von BE erlassenen Bescheids über die Berichtigung bestimmter Vorsteuerabzüge, die BE vor Eröffnung dieses Insolvenzverfahrens vorgenommen hatte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie nennt unter den der Steuer unterliegenden Umsätzen die Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt.
Rz. 4
Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Als ‚Steuerpflichtiger’ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit’ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.”
Rz. 5
Nach Art. 167 der Richtlinie entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.
Rz. 6
Art. 168 der Richtlinie bestimmt:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, v...