Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Erwerb von Lebensmitteln. Vorsteuerabzug. Versagung des Abzugs. Möglicherweise fiktiver Lieferer. Mehrwertsteuerbetrug. Voraussetzungen hinsichtlich der Kenntnis seitens des Erwerbers. Verpflichtungen in Bezug auf die Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln und die Feststellung des Lieferers -Registrierungspflichten der Lebensmittelunternehmer. Auswirkung auf das Vorsteuerabzugsrecht
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 168 Buchst. a
Beteiligte
Verfahrensgang
Augstaka tiesa (Lettland) (Beschluss vom 10.05.2018; ABl. EU 2018 Nr. C 276/21) |
Tenor
1. Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass einem Steuerpflichtigen, der Teil der Lebensmittelkette ist, das Vorsteuerabzugsrecht allein aus dem Grund – unter der Annahme, dass dieser ordnungsgemäß festgestellt wurde, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist – versagt wird, weil dieser Steuerpflichtige seine Verpflichtungen nach Art. 18 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit in Bezug auf die Feststellung seiner Lieferer zwecks Rückverfolgbarkeit der Lebensmittel nicht eingehalten hat. Die Nichteinhaltung dieser Verpflichtungen kann allerdings eines von mehreren Indizien darstellen, die gemeinsam und im Einklang miteinander darauf hindeuten, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er an einem in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogenen Umsatz beteiligt war, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
2. Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2010/45 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die von einem Steuerpflichtigen, der Teil der Lebensmittelkette ist, unterlassene Überprüfung der Registrierung seiner Lieferer bei den zuständigen Behörden gemäß Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über Lebensmittelhygiene und Art. 31 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts sowie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz für die Beurteilung irrelevant ist, ob der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er an einem in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogenen Umsatz beteiligt war.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Augstākā tiesa (Oberstes Gericht, Lettland) mit Entscheidung vom 10. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Mai 2018, in dem Verfahren
Valsts ieņēmumu dienests
gegen
”Altic” SIA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen (Berichterstatter), J. Malenovský und C. G. Fernlund sowie der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. März 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der „Altic” SIA, vertreten durch A. Purmalis, advokāts,
- der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kucina und V. Soņeca als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios, J. Jokubauskaite und A. Sauka als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. Mai 2019
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Valsts ieņēmumu dienests (lettische Abgabenbehörde, im Folgenden: Abgabenbehörde) und der „Altic” SIA über eine an Altic gerichtete Zahlungsaufforderung für die von ihr entrichtete und dann als Vorsteuer abgezogene Mehrwertsteuer für den Erwerb von Rapssaatgut samt Strafzuschlag und Verspätungszinsen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom...