Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Steuerwesen. Mehrwertsteuer. Gegen Entgelt erbrachte Dienstleistung. Begriffe ‚Steuerpflichtiger’ und ‚wirtschaftliche Tätigkeit’. Gemeinnütziger Verein, der aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) finanzierte Projekte durchführt. Erbringung von Dienstleistungen der Aus- und Fortbildung unter Einschaltung von Unterauftragnehmern. Einbeziehung des Subventionsbetrags in die Steuerbemessungsgrundlage
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, Art. 73, 9 Abs. 1
Beteiligte
Latvijas Informācijas un komunikācijas tehnoloġijas asociācija |
Biedrība „Latvijas Informācijas un komunikācijas tehnoloġijas asociācija” |
Verfahrensgang
Administrativa apgabaltiesa (Lettland) (Beschluss vom 14.02.2023; ABl. EU 2023, Nr. C 173/19) |
Tenor
1. Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
ist dahin auszulegen, dass
von einem Verein, der keine Gewinnerzielungsabsicht verfolgt, in Rechnung gestellte Aus- und Fortbildungsdienstleistungen, die im Wesentlichen an Dritte untervergeben und in einem Umfang von bis zu 70 % ihres Gesamtbetrags aus europäischen Fondsmitteln subventioniert wurden, gegen Entgelt erbrachte Dienstleistungen darstellen, ohne dass Art. 28 der Richtlinie 2006/112 Anwendung findet, wenn es keinen ausdrücklichen Geschäftsbesorgungsvertrag gibt, anhand dessen sich das Vorliegen einer Dienstleistung feststellen lässt, die von einem Steuerpflichtigen im eigenen Namen und für Rechnung Dritter erbracht wird.
2. Art. 73 der Richtlinie 2006/112
ist dahin auszulegen, dass
Subventionen, die an einen Dienstleistungserbringer aus einem europäischen Fonds für eine konkrete Dienstleistung fließen, gemäß dieser Bestimmung als von einem Dritten erhaltene Zahlung in die Steuerbemessungsgrundlage fallen.
3. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112
ist dahin auszulegen, dass
der Status eines Vereins als Zusammenschluss ohne Gewinnerzielungsabsicht nicht ausschließt, dass der Verein nach einer Prüfung, bei der alle Umstände seiner Tätigkeit und insbesondere der Umstand berücksichtigt werden, dass diese Tätigkeit mit der typischen Tätigkeit eines Wirtschaftsteilnehmers desselben Wirtschaftszweigs vergleichbar ist, als ein Steuerpflichtiger angesehen werden kann, der eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung ausübt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Administratīvā apgabaltiesa (Regionalverwaltungsgericht, Lettland) mit Entscheidung vom 14. Februar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Februar 2023, in dem Verfahren
Biedrība „Latvijas Informācijas un komunikācijas tehnoloġijas asociācija”
gegen
Valsts ieņēmumu dienests
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen sowie der Richter N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Biedrība „Latvijas Informācijas un komunikācijas tehnoloġijas asociācija”, vertreten durch A. Le?koviča, Advokāte,
- der lettischen Regierung, vertreten durch J. Davidoviča, K. Pommere und E. Bārdiņ? als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Carlin, M. Herold und L. Ozola als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 7. März 2024
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft im Wesentlichen die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, Art. 9 Abs. 1, Art. 28 und Art. 73 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Biedrība „Latvijas Informācijas un komunikācijas tehnoloġijas asociācija”, einem lettischen Verein für Informations- und Kommunikationstechnologien (im Folgenden: der Verein), und dem Valsts ieņēmumu dienests (Steuerverwaltung, Lettland) wegen der Weigerung der Steuerverwaltung, dem Verein den Abzug der Vorsteuer aus Rechnungen zuzugestehen, die ihm von Unternehmen ausgestellt wurden, die er für Aus- und Fortbildungsdienstleistungen eingeschaltet hatte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 heißt es:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
…”
Rz. 4
Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Als ‚Steuerpflichtiger’ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit’ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt ins...