Entscheidungsstichwort (Thema)
Einfuhrumsatzsteuer, Steuerbefreiung, Einbezug von Beförderungskosten in die Besteuerungsgrundlage
Leitsatz (amtlich)
Art. 144 in Verbindung mit Art. 86 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach die Anwendung der Mehrwertsteuerbefreiung auf Nebenleistungen, einschließlich der Beförderungsleistungen, nicht nur voraussetzt, dass deren Wert in die Besteuerungsgrundlage einbezogen wird, sondern auch, dass auf diese Leistungen bei der Einfuhr tatsächlich Einfuhrumsatzsteuer erhoben wird.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 144, 86 Abs. 1
Beteiligte
Federal Express Europe Inc |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Mehrwertsteuer ‐ Sechste Richtlinie 77/388/EWG ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Befreiung von der Mehrwertsteuer ‐ Art. 86 Abs. 1 Buchst. b und Art. 144 ‐ Befreiung von Waren mit geringem Wert oder nicht kommerzieller Art von den Eingangsabgaben ‐ Steuerbefreiung für Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Einfuhr von Gegenständen ‐ Nationale Regelung, nach der die Kosten für die Beförderung von Dokumenten und Gegenständen mit geringem Wert der Mehrwertsteuer unterliegen, obwohl es sich dabei um Nebenkosten von nicht der Steuer unterliegenden Gegenständen handelt“
In der Rechtssache C-273/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 9. Dezember 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Mai 2016, in dem Verfahren
Agenzia delle Entrate
gegen
Federal Express Europe Inc.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Regan, J.-C. Bonichot, C. G. Fernlund und S. Rodin,
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Mai 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Federal Express Europe Inc., vertreten durch G. Brocchieri, G. Di Garbo, G. Polacco und B. Bagnoli, avvocati, sowie durch T. Scheer, advocaat,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino und E. De Bonis, avvocati dello Stato,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal, L. Lozano Palacios und F. Tomat als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 86 Abs. 1 Buchst. b und Art. 144 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Agenzia delle Entrate (Finanzverwaltung, Italien) und der Federal Express Europe Inc. (im Folgenden: FedEx), der italienischen Tochtergesellschaft des Konzerns FedEx Corporation, über die Erhebung von Mehrwertsteuer auf Beförderungskosten im Zusammenhang mit der Einfuhr von Gegenständen, die von der Mehrwertsteuer befreit sind.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EWG) Nr. 918/83
Rz. 3
Art. 27 der Verordnung (EWG) Nr. 918/83 des Rates vom 28. März 1983 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen (ABl. 1983, L 105, S. 1) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 3357/91 des Rates vom 7. November 1991 (ABl. 1991, L 318, S. 3) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 918/83) lautet:
„Von den Eingangsabgaben befreit sind vorbehaltlich des Artikels 28 Sendungen von Waren mit geringem Wert, die unmittelbar aus einem Drittland an einen Empfänger in der Gemeinschaft versandt werden.
Als ‚Waren mit geringem Wert‘ gelten Waren, deren Gesamtwert je Sendung 22 [Euro] nicht übersteigt.“
Richtlinie 83/181/EWG
Rz. 4
Art. 22 der Richtlinie 83/181/EWG des Rates vom 28. März 1983 zur Festlegung des Anwendungsbereichs von Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe d) der Richtlinie 77/388/EWG hinsichtlich der Mehrwertsteuerbefreiung bestimmter endgültiger Einfuhren von Gegenständen (ABl. 1983, L 105, S. 38) in der durch die Richtlinie 88/331/EWG des Rates vom 13. Juni 1988 (ABl. 1988, L 151, S. 79) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 83/181) sah vor:
„Von der Steuer befreit sind die Einfuhren von Gegenständen, deren Gesamtwert 10 [Euro] nicht übersteigt. Die Mitgliedstaaten können Einfuhren von Gegenständen, deren Gesamtwert mehr als 10 [Euro] beträgt, jedoch 22 [Euro] nicht übersteigt, von der Steuer befreien.
Die Mitgliedstaaten können von der in Absatz 1 Satz 1 vorgesehenen Steuerbefreiung jedoch Gegenstände ausnehmen, die im Rahmen des Versandhandels eingeführt werden.“
Rz. 5
Die Richtlinie 83/181 wurde durch die Richtlinie 2009/132/E...