Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Harmonisierung des Steuerrechts. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Zu Unrecht in Rechnung gestellte und entrichtete Mehrwertsteuer. Berichtigung der Rechnung. Insolvenz des Leistenden. Erstattung der Mehrwertsteuer an den Leistenden. Weigerung der Steuerbehörde, die Mehrwertsteuer unmittelbar an den Erwerber zu erstatten. Vorrang in Bezug auf den Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer. Gefahr einer doppelten Erstattung der Mehrwertsteuer. Gefährdung des Steueraufkommens
Normenkette
EGRL 112/2006
Beteiligte
Verfahrensgang
Tenor
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung ist im Licht der Grundsätze der Effektivität und der Neutralität der Mehrwertsteuer
dahin auszulegen, dass
der Leistungsempfänger nicht unmittelbar bei der Finanzverwaltung des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet er ansässig ist, die Erstattung der Mehrwertsteuer verlangen kann, die er an den Leistenden gezahlt hat, der irrtümlich die nationale Mehrwertsteuer dieses Mitgliedstaats statt der in einem anderen Mitgliedstaat gesetzlich geschuldeten Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt und an die Steuerbehörden des erstgenannten Mitgliedstaats abgeführt hat, wenn diese dem Leistenden, der sich in einem Insolvenzverfahren befindet, die Mehrwertsteuer bereits erstattet haben.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Beschluss vom 3. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Februar 2023, in dem Verfahren
H GmbH
gegen
Finanzamt M
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen (Berichterstatter) sowie des Richters N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Januar 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der H GmbH, vertreten durch Rechtsanwältin M. Boche und Rechtsanwälte M. von Einem und A. Graf sowie durch D. Hoffmanns und J. Scholz, Steuerberater,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und N. Scheffel als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Eggers und J. Jokubauskaite als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie der Richtlinie 2008/9/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112 an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige (ABl. 2008, L 44, S. 23).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der H GmbH, einer Gesellschaft mit Sitz in Deutschland, und dem Finanzamt M (Deutschland) wegen des Rechts auf Vorsteuerabzug der entrichteten Mehrwertsteuer und der Erstattung dieser Steuer aus Billigkeitsgründen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.”
Rz. 4
In Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden”.
Rz. 5
In Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
a) [F]ür den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen”.
Rz. 6
Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.”
Deutsches Recht
Umsatzsteuergesetz
Rz. 7
§ 14 Abs. 4 des Umsatzsteuergesetzes in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (BGBl. 2013 I S. 1809, im Folgenden: UStG) sieht...