Entscheidungsstichwort (Thema)
Ermäßigter Steuersatz, Bestattungsunternehmen, Leichentransporte
Leitsatz (amtlich)
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Europäische Kommission trägt die Kosten.
Leitsatz (redaktionell)
Die Organisation der Beisetzung eines Leichnams ist keine einheitliche Leistung, die nur einem Steuersatz unterliegen kann. Es ist nicht zwingend, dass der ermäßigte Steuersatz nur dann angewandt werden kann, wenn er sich auf alle Teilbereiche einer Kategorie von Dienstleistungen im Sinne des Anhangs III der Richtlinie zur Änderung der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL) bezieht. Somit ist eine selektive Anwendung eines ermäßigten Satzes (hier Beförderung eines Leichnams als Teil der Dienstleistungen eines Bestattungsunternehmens im Sinne von Anhang III Nr. 16 MwStSystRL) nicht ausgeschlossen, wenn keine Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen besteht.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 96-98, 99 Abs. 1
Beteiligte
Kommission der Europäischen Gemeinschaften |
Tatbestand
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 98 Abs. 1 und 2 ‐ Dienstleistungen von Bestattungsinstituten ‐ Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes auf die Beförderung von Leichnamen mit einem Fahrzeug“
In der Rechtssache C-94/09
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 6. März 2009,
Europäische Kommission, vertreten durch M. Afonso als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Französische Republik, vertreten durch G. de Bergues und J.-S. Pilczer als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter E. Levits, A. Borg Barthet und J.-J. Kasel sowie der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Januar 2010,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Pflichten aus den Art. 96 bis 99 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) verstoßen hat, dass sie nicht auf alle Dienstleistungen von Bestattungsunternehmen, einschließlich der Lieferung von damit im Zusammenhang stehenden Gegenständen, einen einheitlichen Mehrwertsteuersatz angewandt hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 2
Durch die Richtlinie 2006/112 ist die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) mit Wirkung zum 1. Januar 2007 aufgehoben und ersetzt worden.
Rz. 3
Art. 96 der Richtlinie 2006/112, der Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie entspricht, lautet:
„Die Mitgliedstaaten wenden einen Mehrwertsteuer-Normalsatz an, den jeder Mitgliedstaat als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festsetzt und der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist.“
Rz. 4
Art. 98 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2006/112, der Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie entspricht, bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden.
(2) Die ermäßigten Steuersätze sind nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien anwendbar.
…“
Rz. 5
Anhang III der Richtlinie 2006/112, der Anhang H der Sechsten Richtlinie entspricht, enthält eine Liste von Tätigkeiten, u. a. die beiden folgenden Kategorien:
„5. Beförderung von Personen und des mitgeführten Gepäcks;
…
16. Dienstleistungen von Bestattungsinstituten und Krematorien, einschließlich der Lieferung von damit im Zusammenhang stehenden Gegenständen“.
Nationales Recht
Rz. 6
Art. L. 2223-19 des Code général des collectivités territoriales (Gesetzbuch über die Gebietskörperschaften) definiert den externen Dienst von Bestattungsunternehmen:
„Der externe Dienst von Bestattungsunternehmen ist eine öffentliche Aufgabe und umfasst
1. die Beförderung von Leichnamen vor und nach der Einsargung;
2. die Organisation von Trauerfeierlichkeiten;
3. Thanatopraxie;
4. die Lieferung von Bezügen, Särgen samt Zubehör (innen und außen) sowie Graburnen;
5. aufgehoben;
6. die Verwaltung und Benutzung von Aufbahrungshallen;
7. die Stellung von Leichen- und Trauerwagen;
8. die Stellung bzw. Erbringung der für die Trauerfeierlichkeiten, Beerdigungen, Exhumierungen und Einäscherungen notwendigen Arbeitskräfte, Materialien und Dienstleistungen, mit Ausnahme von Gedenktäfelchen, religiösen Zeichen, Blumen, verschiedenen Druck- und Steinmetzar...