Entscheidungsstichwort (Thema)
Unternehmereigenschaft
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 9 Abs. 1, Art. 167
Beteiligte
Feudi di San Gregorio Aziende Agricole |
Feudi di San Gregorio Aziende Agricole SpA |
Verfahrensgang
Corte Suprema di Cassazione (Italien) (Beschluss vom 19.05.2022; ABl. EU 2022, Nr. C 303/16) |
Tenor
1. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass er nicht dazu führen kann, einer Person die Eigenschaft als Mehrwertsteuerpflichtiger zu versagen, die während eines bestimmten Besteuerungszeitraums für die Zwecke der Mehrwertsteuer relevante Umsätze bewirkt, deren wirtschaftlicher Wert den in einer nationalen Regelung festgelegten Schwellenwert, der dem Ertrag entspricht, der bei den dieser Person zur Verfügung stehenden Vermögenswerten vernünftigerweise erwartet werden kann, nicht erreicht.
2. Art. 167 der Richtlinie 2006/112 sowie die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der dem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug aufgrund des als unzureichend angesehenen Betrags seiner für die Zwecke der Mehrwertsteuer relevanten Ausgangsumsätze versagt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 19. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Mai 2022, in dem Verfahren
Feudi di San Gregorio Aziende Agricole SpA
gegen
Agenzia delle Entrate
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Feudi di San Gregorio Aziende Agricole SpA, vertreten durch R. Nicastro, Avvocata,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von D. G. Pintus, P. Pucciariello und F. Urbani Neri, Avvocati dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia, F. Moro und P. Rossi als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. September 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 und Art. 167 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), sowie der Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer, der Verhältnismäßigkeit, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Feudi di San Gregorio Aziende Agricole SpA (im Folgenden: Feudi) und der Agenzia delle Entrate (Steuerverwaltung, Italien) (im Folgenden: Steuerbehörde) wegen der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Als ‚Steuerpflichtiger’ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit’ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.”
Rz. 4
Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.”
Rz. 5
Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.”
Rz. 6
Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden”.
Rz. 7
In Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine g...