Entscheidungsstichwort (Thema)
Besteuerung von Altersrenten, Steuerfreibetrag, Diskriminierung zwischen gebietsansässigen Steuerpflichtigen und gebietsfremden Steuerpflichtigen
Leitsatz (amtlich)
1. Die Republik Estland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV und Art. 28 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 verstoßen, dass sie gebietsfremden Rentnern, die angesichts ihrer niedrigen Renten nach dem Steuerrecht des Wohnsitzmitgliedstaats in diesem nicht steuerpflichtig sind, nicht den im Einkommensteuergesetz (tulumaksuseadus) vom 15. Dezember 1999 in der durch das Gesetz vom 26. November 2009 geänderten Fassung vorgesehenen Steuerfreibetrag gewährt.
2. Die Republik Estland trägt die Kosten.
3. Das Königreich Spanien, die Portugiesische Republik, das Königreich Schweden, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Bundesrepublik Deutschland tragen ihre eigenen Kosten.
Normenkette
AEUV Art. 45; EWR-Abkommen Art. 28
Beteiligte
Tatbestand
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats ‐ Freizügigkeit der Arbeitnehmer ‐ Einkommensteuer ‐ Freibetrag ‐ Altersrenten ‐ Auswirkung auf niedrige Renten ‐ Diskriminierung zwischen gebietsansässigen Steuerpflichtigen und gebietsfremden Steuerpflichtigen“
In der Rechtssache C-39/10
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 22. Januar 2010,
Europäische Kommission, vertreten durch W. Mölls, K. Saaremäel-Stoilov und R. Lyal als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Republik Estland, vertreten durch M. Linntam als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Königreich Spanien, vertreten durch M. Muñoz Pérez und A. Rubio Gonzáles als Bevollmächtigte,
Portugiesische Republik, vertreten durch L. Inez Fernandes als Bevollmächtigten,
Königreich Schweden, vertreten durch A. Falk als Bevollmächtigte,
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland,vertreten durch S. Ossowski als Bevollmächtigten,
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch J. Möller, C. Blaschke und B. Klein als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richterin A. Prechal, des Richters K. Schiemann, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. September 2011,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. November 2011
folgendes
Urteil
Rz. 1
Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Republik Estland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV und Art. 28 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen) verstoßen hat, dass sie im Einkommensteuergesetz (tulumaksuseadus) vom 15. Dezember 1999 (RT I 1999, 101, 903) in der durch das Gesetz vom 26. November 2009 (RT I 2009, 62, 405) geänderten Fassung (im Folgenden: Einkommensteuergesetz) die Anwendung eines individuellen Steuerfreibetrags für Gebietsfremde, deren Gesamteinkünfte so niedrig sind, dass ihnen dieser Freibetrag gewährt würde, wenn sie gebietsansässig wären, nicht vorsieht.
Rechtlicher Rahmen
Empfehlung 94/79/EG
Rz. 2
In den Erwägungsgründen 3, 4 und 6 der Empfehlung 94/79/EG der Kommission vom 21. Dezember 1993 betreffend die Besteuerung bestimmter Einkünfte, die von Nichtansässigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Wohnsitzes erzielt werden (ABl. 1994, L 39, S. 22), heißt es:
„Es ist daher erforderlich, Maßnahmen zu treffen, um die Freizügigkeit im Hinblick auf das Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten. Den Mitgliedstaaten müssen die Vorschriften zur Kenntnis gebracht werden, die sie nach Auffassung der Kommission erlassen sollten, um sicherzustellen, dass Nichtansässige steuerlich ebenso günstig behandelt werden wie Ansässige.
Diese Maßnahme steht einer aktiven Politik der Kommission im Bereich der Vertragsverletzungsverfahren, die die Beachtung der grundlegenden Prinzipien des [EG-]Vertrages sicherstellen soll, nicht entgegen.
…
Der Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß den Artikeln [45 AEUV] und [49 AEUV] erlaubt es nicht, die Personen, die … Einkünfte erzielen, von den steuerlichen Vorteilen und sonstigen Abzügen auszunehmen, die den Ansässigen gewährt werden, sofern der Großteil ihrer Einkünfte im Tätigkeitsstaat erzielt wird.“
Rz. 3
Aus Art. 1 Abs. 1 dieser Empfehlung geht hervor, dass sie verschiedene Kategorien von Einkünften, u. a. Altersruhegelder, betrifft.
Rz. 4
Art. 2 Abs. 1 und 2 Unterabs. 1 der Empfehlung sieht vor:
„(1) Die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Einkünfte werden in dem sie besteuernden Mitgliedstaat keiner höheren Steuerbelastung unterworfen als derjenigen, die dieser Staat festsetzen würde, wenn der Steuerpflichtige, sein Ehegatte und seine Kinder in ihm ansässig wäre...