Entscheidungsstichwort (Thema)
Entstehung einer Zollschuld, Entstehung eines Mehrwertsteueranspruchs, Raub von in in Zolllagerverfahren übergeführten Waren, Begriff des unwiederbringlichen Verlusts einer Ware infolge höherer Gewalt
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 203 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1791/2006 des Rates vom 20. November 2006 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein Raub von in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren eine Entziehung dieser Waren im Sinne dieser Bestimmung darstellt, die zur Entstehung einer Einfuhrzollschuld führt. Art. 206 der genannten Verordnung kann nur in Fällen Anwendung finden, in denen eine Zollschuld nach den Art. 202 und 204 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung entstehen kann.
2. Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass der Raub von in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren den Mehrwertsteuertatbestand und -anspruch entstehen lässt.
Normenkette
EWGV 2913/92 Art. 203 Abs. 1, Art. 206; EGRL 112/2006 Art. 71 Abs. 1
Beteiligte
Directeur général des douanes et droits indirects |
Chef de l' agence de poursuites de la Direction nationale du renseignement et des enquêtes douanières |
Verfahrensgang
Cour de Cassation (Frankreich) (Urteil vom 30.05.2012; ABl. EU 2012, Nr. C 235/9) |
Tatbestand
„Zollkodex der Gemeinschaften ‐ Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 ‐ Art. 206 ‐ Entstehung einer Zollschuld ‐ Raub von in das Zolllagerverfahren übergeführten Waren ‐ Begriff des unwiederbringlichen Verlusts einer Ware infolge höherer Gewalt ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 71 ‐ Mehrwertsteuer ‐ Steuertatbestand ‐ Steueranspruch“
In der Rechtssache C-273/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Frankreich) mit Entscheidung vom 30. Mai 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juni 2012, in dem Verfahren
Directeur général des douanes et droits indirects,
Chef de l’agence de poursuites de la Direction nationale du renseignement et des enquêtes douanières
gegen
Harry Winston SARL
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter G. Arestis (Berichterstatter), J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev und J. L. da Cruz Vilaça,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. März 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Harry Winston SARL, vertreten durch X. Jauze, avocat,
‐ der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und C. Candat als Bevollmächtigte,
‐ der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
‐ der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam als Bevollmächtigte,
‐ der griechischen Regierung, vertreten durch K. Paraskevopoulou und Z. Chatzipavlou als Bevollmächtigte,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Albenzio, avvocato dello Stato,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Soulay und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 206 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1791/2006 des Rates vom 20. November 2006 (ABl. L 363, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex) und des Art. 71 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Directeur général des douanes et droits indirects (Generaldirektor der Dienststelle für Zölle und indirekte Steuern) und dem Chef de l’agence de poursuites de la Direction nationale du renseignement et des enquêtes douanières (Leiter der Fahndungsstelle der nationalen Direktion des Nachrichtendienstes und der Zollfahndung) (im Folgenden gemeinsam: Zollverwaltung) auf der einen und der Gesellschaft Harry Winston SARL (im Folgenden: Harry Winston) auf der anderen Seite wegen der Entrichtung von Zöllen und Mehrwertsteuer für Waren, die gestohlen wurden, nachdem sie in das Zolllagerverfahren übergeführt worden waren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 79/623/EWG
Rz. 3
Im neunten Erwägungsgrund der durch den Zollkodex aufgehobenen Richtlinie 79/623/EWG des Rates vom 25. Juni 1979 zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Zollschuld (ABl. L 179, S. 31) hieß es:
„… Die Zollschuld kann ‐ abgesehen von ihrer Tilgung oder Verjährung gemä...