Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. In der Steuererklärung zu hoch angesetzter Betrag der Mehrwertsteuererstattung. Beurteilungsfehler des Steuerpflichtigen bezüglich der Steuerbarkeit des Umsatzes. Berichtigung der Steuererklärung im Anschluss an eine Prüfung. Sanktion in Höhe von 20 % des Betrags, um den der Betrag der Mehrwertsteuererstattung zu hoch angesetzt wurde. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 273
Beteiligte
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu |
Verfahrensgang
Wojewódzki Sad Administracyjny we Wroclawiu (Polen) (Beschluss vom 03.10.2019; ABl. EU 2020, Nr. C 191/2) |
Tenor
Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Steuerpflichtigen, der einen mehrwertsteuerbefreiten Umsatz zu Unrecht als einen dieser Steuer unterliegenden Umsatz eingestuft hat, eine Sanktion in Höhe von 20 % des Betrags auferlegt wird, um den der zu Unrecht geforderte Betrag der Mehrwertsteuererstattung zu hoch angesetzt wurde, sofern diese Sanktion gleichermaßen für eine Situation gilt, in der sich die Unregelmäßigkeit aus einem Beurteilungsfehler der an dem Umsatz beteiligten Parteien bezüglich seiner Steuerbarkeit ergibt, die weder Anhaltspunkte für Steuerhinterziehung bietet noch zum Verlust von Steuereinnahmen geführt hat, und für eine Situation, in der solche besonderen Umstände fehlen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Wojewódzki Sad Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Breslau, Polen) mit Entscheidung vom 3. Oktober 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Dezember 2019, in dem Verfahren
Grupa Warzywna Sp. z o.o.
gegen
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie des Richters S. Rodin und der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin),
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Grupa Warzywna sp. z o.o., vertreten durch M. Pacyna und K. Kocowski, adwokaci, im Beistand von S. Zabczyk, doradca podatkowy,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaite und M. Siekierzynska als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 AEUV, der Art. 2, 250 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Grupa Warzywna sp. z o.o. und dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu (Direktor der Finanzverwaltungskammer Breslau, Polen) wegen Verhängung einer Verwaltungssanktion gegen diese Gesellschaft im Anschluss an eine Steuerprüfung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt”.
Rz. 4
In Art. 12 Abs. 1 und 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten können Personen als Steuerpflichtige betrachten, die gelegentlich eine der in Artikel 9 Absatz 1 Unterabsatz 2 genannten Tätigkeiten ausüben und insbesondere einen der folgenden Umsätze bewirken:
a) Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden, wenn sie vor dem Erstbezug erfolgt;
…
(2) Als ‚Gebäude’ im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe a gilt jedes mit dem Boden fest verbundene Bauwerk.
…
Die Mitgliedstaaten können andere Kriterien als das des Erstbezugs bestimmen, wie etwa den Zeitraum zwischen der Fertigstellung des Gebäudes und dem Zeitpunkt seiner ersten Lieferung, oder den Zeitraum zwischen dem Erstbezug und der späteren Lieferung, sofern diese Zeiträume fünf bzw. zwei Jahre nicht überschreiten.”
Rz. 5
Art. 135 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
j) Lieferung von anderen Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden als den in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a genannten;
… „
Rz. 6
In Art. 137 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten können ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, sich bei folgenden Umsätzen für eine Besteuerung zu entscheiden:
…
b) Lieferung von an...