Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbefreiung
Normenkette
AEUV Art. 63, 49
Beteiligte
The Commissioners for Her Majesty's Revenue and Customs |
Verfahrensgang
Upper Tribunal (Vereinigtes Königreich) (Beschluss vom 29.12.2020; ABl. EU 2021 Nr. C 110/20) |
Tenor
1. Art. 63 AEUV ist dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung, die nur auf Konzerne anwendbar ist, nicht in seinen Anwendungsbereich fällt.
2. Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung, wonach eine Veräußerung von Vermögenswerten durch eine Gesellschaft mit steuerlichem Sitz in einem Mitgliedstaat an eine Schwestergesellschaft mit steuerlichem Sitz in einem Drittland, die nicht über eine ständige Niederlassung in diesem Mitgliedstaat Geschäfte betreibt, sofort besteuert wird, wenn diese beiden Gesellschaften 100%ige Tochtergesellschaften einer in einem anderen Mitgliedstaat steuerlich ansässigen gemeinsamen Muttergesellschaft sind, während eine solche Veräußerung steuerlich neutral wäre, wenn auch die Schwestergesellschaft im ersten Mitgliedstaat steuerlich ansässig wäre oder dort über eine ständige Niederlassung Geschäfte betreiben würde, keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit der Muttergesellschaft nach Art. 49 AEUV darstellt.
3. Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass eine Beschränkung des Rechts auf Niederlassungsfreiheit, die sich daraus ergibt, dass inländische und grenzüberschreitende entgeltliche Veräußerungen von Vermögenswerten innerhalb eines Konzerns aufgrund einer nationalen Regelung, wonach die Veräußerung von Vermögenswerten durch eine Gesellschaft mit steuerlichem Sitz in einem Mitgliedstaat sofort besteuert wird, unterschiedlich behandelt werden, grundsätzlich wegen des Erfordernisses der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten gerechtfertigt sein kann, ohne dass die Möglichkeit eines Aufschubs der Steuerzahlung vorgesehen werden müsste, um die Verhältnismäßigkeit dieser Beschränkung zu gewährleisten, wenn der betreffende Steuerpflichtige als Gegenleistung für die Veräußerung der Vermögenswerte einen Betrag erhalten hat, der deren vollem Marktwert entspricht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) (Rechtsmittelgericht [Kammer für Steuer- und Finanzsachen], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 29. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Dezember 2020, in dem Verfahren
Gallaher Limited
gegen
The Commissioners for Her Majesty's Revenue and Customs
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra, N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Gallaher Limited, vertreten durch I. Afzal, Barrister, P. Baker, QC, S. Bond und E. Buxton, Solicitors,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Baxter, F. Shibli und J. Simpson als Bevollmächtigte im Beistand von R. Baldry, QC, und B. Elliott, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch P.-J. Loewenthal und W. Roels als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. September 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49, 63 und 64 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gallaher Limited (im Folgenden: GL), einer Gesellschaft mit steuerlichem Sitz im Vereinigten Königreich, und den Commissioners for Her Majesty's Revenue and Customs (Steuer- und Zollverwaltung, Vereinigtes Königreich) (im Folgenden: Steuerverwaltung) über die Steuerpflichtigkeit von GL wegen zweier Veräußerungen von Vermögenswerten auf Gesellschaften, die demselben Konzern wie GL angehören und deren steuerlicher Sitz sich nicht im Vereinigten Königreich befindet, wobei die Entrichtung der Steuer nicht aufgeschoben werden kann.
Rechtlicher Rahmen
Austrittsabkommen
Rz. 3
Das Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7, im Folgenden: Austrittsabkommen) wurde mit dem Beschluss (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 (ABl. 2020, L 29, S. 1) genehmigt.
Rz. 4
Nach der Präambel des Austrittsabkommens findet vorbehaltlich der Regelungen in diesem Abkommen das Recht der Union in seiner Gesamtheit ab dem Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens auf das Vereinigte Königreich keine Anwendung mehr.
Rz. 5
Art. 126 des Austrittsabkommen sieht einen Übergangszeitraum vor, der am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens beginnt und am 31. Dezember 2020 endet. Während des Übergangszeitraums gilt das Unionsrecht für das Vereinigte Königreich, sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist.
Rz. 6
Art. 86 („Vor dem Gerichtshof der Eu...