Entscheidungsstichwort (Thema)
Restschuldbefreiungsverfahren für insolvente natürliche Personen, Uneinbringlichkeit von Mehrwertsteuerschulden
Leitsatz (amtlich)
Das Unionsrecht, insbesondere Art. 4 Abs. 3 EUV, die Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage sowie die Vorschriften über staatliche Beihilfen sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verbieten, dass Mehrwertsteuerschulden gemäß einer nationalen Regelung wie der des Ausgangsverfahrens für uneinbringlich erklärt werden, die ein Restschuldbefreiungsverfahren vorsieht, bei dem ein Gericht unter bestimmten Voraussetzungen Schulden einer natürlichen Person, die bei Abschluss eines diese Person betreffenden Insolvenzverfahrens nicht beglichen sind, für uneinbringlich erklären kann.
Normenkette
EUV Art. 4 Abs. 3; EWGRL 388/77 Art. 2, 22
Beteiligte
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Steuerwesen ‐ Mehrwertsteuer ‐ Art. 4 Abs. 3 EUV ‐ Sechste Richtlinie ‐ Staatliche Beihilfen ‐ Restschuldbefreiungsverfahren für insolvente natürliche Personen (‚esdebitazione‘) ‐ Uneinbringlichkeit von Mehrwertsteuerschulden“
In der Rechtssache C-493/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 6. Mai 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 21. September 2015, in dem Verfahren
Agenzia delle Entrate
gegen
Marco Identi
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal sowie der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas (Berichterstatter),
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. De Bellis, avvocato dello Stato,
‐ der spanischen Regierung, vertreten durch M. A. Sampol Pucurull als Bevollmächtigten,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Caeiros, L. Lozano Palacios und F. Tomat als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV sowie Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Agenzia delle Entrate (Finanzbehörde) und Herrn Marco Identi über einen Bescheid zur Mehrwertsteuer und zur Regionalsteuer auf Produktionstätigkeiten im Steuerjahr 2003.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Mehrwertsteuerrichtlinie
Rz. 3
Nach Art. 2 der Sechsten Richtlinie unterliegen Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt, und die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer.
Rz. 4
Art. 22 der Sechsten Richtlinie bestimmt:
„…
(4) Jeder Steuerpflichtige hat innerhalb eines Zeitraums, der von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegen ist, eine Steuererklärung abzugeben. …
…
(5) Jeder Steuerpflichtige hat bei der Abgabe der periodischen Steuererklärung den sich nach Vornahme des Vorsteuerabzugs ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten. Die Mitgliedstaaten können jedoch einen anderen Termin für die Zahlung dieses Betrags festsetzen oder vorläufige Vorauszahlungen erheben.
…
(8) … [D]ie Mitgliedstaaten [können] weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden.
…“
Italienisches Recht
Rz. 5
Mit dem Decreto legislativo n. 5 (Gesetzesdekret Nr. 5) vom 9. Januar 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 13 vom 16. Januar 2006) wurde durch Änderung der Art. 142 bis 144 der Legge fallimentare (Insolvenzgesetz), die durch das Regio decreto Nr. 267 (Königliches Dekret Nr. 267) vom 16. März 1942 (GURI Nr. 81 vom 6. April 1942) genehmigt und durch das Decreto legislativo n. 169 (Gesetzesdekret Nr. 169) vom 12. September 2007 (GURI Nr. 241 vom 16. Oktober 2007) geändert wurde, das Restschuldbefreiungsverfahren („esdebitazione“) eingeführt.
Rz. 6
Art. 142 („Restschuldbefreiung“) des Insolvenzgesetzes lautet:
„Einer in Insolvenz befindlichen natürlichen Person wird unter folgenden Voraussetzungen eine Restschuldbefreiung gegenüber noch nicht befriedigten Insolvenzgläubigern gewährt:
1) Sie hat mit den mit dem Verfahren befassten Stellen zusammengearbeitet und alle Informationen und Unterlagen zur Ermittlung der Passiva zur Verfügung gestellt sowie redlich au...