Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr. Gegenstände, die durch einen nicht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ansässigen Erwerber nach Orten außerhalb der Europäischen Union versandt oder befördert werden. ‚Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden’, die nicht in der Union ansässig sind. Begriff. Gegenstände, die das Gebiet der Union tatsächlich verlassen haben. Beweis. Versagung der Steuerbefreiung bei der Ausfuhr. Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit. Betrug
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 146 Abs. 1 Buchst. b, Art. 147
Beteiligte
BAKATI PLUS Kereskedelmi és Szolgáltató Kft |
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága |
Verfahrensgang
Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Ungarn) (Beschluss vom 22.08.2019; ABl. EU 2020, Nr. C 95/10) |
Tenor
1. Die in Art. 147 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem vorgesehene Steuerbefreiung für „Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden”, ist dahin auszulegen, dass darunter keine Gegenstände fallen, die eine Privatperson, die nicht in der Europäischen Union ansässig ist, zu gewerblichen Zwecken nach Orten außerhalb der Europäischen Union mit sich führt, um sie in einem Drittstaat weiterzuverkaufen.
2. Art. 146 Abs. 1 Buchst. b und Art. 147 der Richtlinie 2006/112 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsprechung nicht entgegenstehen, nach der die Steuerverwaltung, wenn sie feststellt, dass die Voraussetzungen der Mehrwertsteuerbefreiung für Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden nicht erfüllt sind, die betreffenden Gegenstände vom Erwerber aber tatsächlich nach Orten außerhalb der Union befördert wurden, verpflichtet ist, zu prüfen, ob die in Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung auf die in Rede stehende Lieferung angewandt werden kann, obwohl die einschlägigen Zollformalitäten nicht durchgeführt wurden und der Erwerber beim Kauf nicht beabsichtigte, dass diese Befreiung angewandt wird.
3. Art. 146 Abs. 1 Buchst. b und Art. 147 der Richtlinie 2006/112 sowie die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Praxis entgegenstehen, nach der die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen automatisch die in diesen Bestimmungen vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung versagt, wenn sie feststellt, dass der Steuerpflichtige das Formular bösgläubig ausgestellt hat, auf dessen Grundlage der Erwerber sich auf die in Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Steuerbefreiung berufen hat, obwohl feststeht, dass die betroffenen Gegenstände das Gebiet der Europäischen Union verlassen haben. Unter diesen Umständen ist die in Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung zu versagen, wenn der Verstoß gegen eine formale Anforderung den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen hinsichtlich der Anwendung dieser Befreiung erfüllt wurden, oder wenn festgestellt wird, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der fragliche Umsatz in einen Betrug einbezogen war, der das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdet.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged, Ungarn) mit Entscheidung vom 22. August 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 4. September 2019, in dem Verfahren
BAKATI PLUS Kereskedelmi és Szolgáltató Kft.
gegen
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter M. Ilešič, E. Juhász, C. Lycourgos und I. Jarukaitis (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der BAKATI PLUS Kereskedelmi és Szolgáltató Kft., vertreten durch A. Hajós, A. I. Dobos und L. Horváth, ügyvédek,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Havas, L. Lozano Palacios und F. Clotuche-Duvieusart als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Juli 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 146 und 147 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie oder Richtlinie) sowie der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der BAKATI PLUS Keres...