Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Elektronische Kommunikationsnetze und -dienste. Richtlinie 2002/22/EG. Universaldienst. Streitfälle zwischen Endnutzern und Dienstanbietern. Obligatorischer außergerichtlicher Streitbeilegungsversuch
Beteiligte
Lucia Anna Giorgia Iacono |
Tenor
Art. 34 der Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienstrichtlinie) ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die in Streitfällen zwischen Endnutzern und Dienstanbietern auf dem Gebiet der elektronischen Kommunikationsdienste, in denen von dieser Richtlinie verliehene Rechte in Frage stehen, als Zulässigkeitsvoraussetzung für eine Klage einen obligatorischen Versuch der außergerichtlichen Streitbeilegung vorschreibt.
Die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sowie der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes stehen einer nationalen Regelung, die für solche Streitfälle die vorherige Durchführung eines außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahrens vorschreibt, gleichfalls nicht entgegen, wenn dieses Verfahren nicht zu einer die Parteien bindenden Entscheidung führt, keine wesentliche Verzögerung für die Erhebung einer Klage bewirkt, die Verjährung der betroffenen Ansprüche hemmt und für die Parteien keine oder nur geringe Kosten mit sich bringt, vorausgesetzt jedoch, dass die elektronische Kommunikation nicht das einzige Mittel des Zugangs zu diesem Streitbeilegungsverfahren bildet und dass Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes in Ausnahmefällen möglich sind, in denen die Dringlichkeit der Lage dies verlangt.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Giudice di pace di Ischia (Italien) mit Entscheidungen vom 4. April 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Juli 2008, in den Verfahren
Rosalba Alassini
gegen
Telecom Italia SpA (C-317/08)
und
Filomena Califano
gegen
Wind SpA (C-318/08)
und
Lucia Anna Giorgia Iacono
gegen
Telecom Italia SpA (C-319/08)
und
Multiservice Srl
gegen
Telecom Italia SpA (C-320/08)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten Kammer K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter G. Arestis, J. Malenovský und T. von Danwitz,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. September 2009,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Wind SpA, vertreten durch D. Cutolo, avvocato,
- der italienischen Regierung, vertreten durch P. Gentili, avvocato dello Stato,
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch N. Bambara, A. Nijenhuis, I. V. Rogalski und S. La Pergola als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 19. November 2009
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes im Hinblick auf eine nationale Regelung, die in bestimmten Streitfällen zwischen Dienstanbietern und Endnutzern, die unter die Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienstrichtlinie) (ABl. L 108, S. 51) fallen, als Zulässigkeitsvoraussetzung einer Klage einen obligatorischen außergerichtlichen Streitbeilegungsversuch vorsieht.
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen in vier Rechtsstreitigkeiten zwischen jeweils Frau Alassini, Frau Iacono und der Multiservice Srl einerseits und der Telecom Italia SpA andererseits sowie zwischen Frau Califano und der Wind SpA wegen angeblicher Nichterfüllung von Verträgen zwischen den Parteien der Ausgangsverfahren, die die Erbringung von Telefondiensten an die Klägerinnen dieser Verfahren durch jeweils einen der beiden beklagten Dienstanbieter zum Gegenstand haben.
Rechtlicher Rahmen
Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
Rz. 3
Art. 6 („Recht auf ein faires Verfahren”) Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sieht vor:
„Jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpfl...