Entscheidungsstichwort (Thema)
Mutter-/Tochter-Richtlinie, Steuerbefreiung der einer Tochtergesellschaft ausgeschütteten Dividenden auf Ebene der Muttergesellschaft, Vortrag von Überschüssen aus definitiv besteuerten Einkünften auf nachfolgende Steuerjahre, Übernahme einer Gesellschaft mit Überschüssen aus definitiv besteuerten Einkünften durch eine andere Gesellschaft, Besteuerungsgrundlage, Einbeziehung von Dividenden in die Besteuerungsgrundlage
Normenkette
EWGRL 435/90 Art. 4 Abs. 1
Beteiligte
Verfahrensgang
Cour d' appel de Bruxelles (Belgien) (Beschluss vom 29.04.2021; ABl. EU 2021, Nr. C 289/29) |
Tenor
Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten
ist dahin auszulegen, dass
er der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die vorsieht, dass die von einer Gesellschaft bezogenen Dividenden in ihre Besteuerungsgrundlage einbezogen werden, bevor sie davon zu 95 % abgezogen werden, und die gegebenenfalls den Vortrag dieses Abzugs auf spätere Steuerjahre zulässt, jedoch im Fall der Übernahme dieser Gesellschaft im Rahmen einer Fusion die Übertragung des Vortrags dieses Abzugs auf die übernehmende Gesellschaft im Verhältnis des Anteils begrenzt, den das Steuerreinvermögen der übertragenden Gesellschaft in der Summe aus dem Steuerreinvermögen der übernehmenden und der übertragenden Gesellschaft ausmacht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d'appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 29. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Mai 2021, in dem Verfahren
Allianz Benelux SA
gegen
État belge, SPF Finances
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Februar 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Allianz Benelux SA, vertreten durch V.-A. De Brauwere, Avocate,
- der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, J.-C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von D. Delvaux als Sachverständigen,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und V. Uher als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. April 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 1990, L 225, S. 6) in Verbindung mit der Dritten Richtlinie 78/855/EWG des Rates vom 9. Oktober 1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften (ABl. 1978, L 295, S. 36) und der Sechsten Richtlinie 82/891/EWG des Rates vom 17. Dezember 1982 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften (ABl. 1982, L 378, S. 47).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Allianz Benelux SA und dem État belge (Belgischer Staat), SPF Finances (Föderaler Öffentlicher Dienst Finanzen), über die Bestimmung des körperschaftsteuerpflichtigen Ergebnisses dieser Gesellschaft für die Steuerjahre 2004 bis 2007.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 90/435
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 3 und 4 der Richtlinie 90/435 lauten:
„Die für die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten geltenden Steuerbestimmungen weisen von einem Staat zum anderen erhebliche Unterschiede auf und sind im Allgemeinen weniger günstig als die auf die Beziehung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften desselben Mitgliedstaats anwendbaren Bestimmungen. Die Zusammenarbeit von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten wird auf diese Weise gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats benachteiligt. Diese Benachteiligung ist durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems zu beseitigen, wodurch Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Gemeinschaftsebene erleichtert werden.
Bezieht eine Muttergesellschaft als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft Gewinnausschüttungen, so
- besteuert der Staat der Muttergesellschaft diese entweder nicht oder
- lässt er im Fall einer Besteuerung zu, dass die Gesellschaft den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft für die von ihr ausgeschütteten Gewinne entrichtet, auf die Steuer anrechnen kann.”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 1 erster und zweiter Gedankenstrich dieser Richtlinie sieht vor:
„Jeder Mitgliedstaat wendet diese Richtlinie an
- auf Gewinnausschüttungen, die Gesellschaften dieses Staates von Tochtergesellschaften eines anderen Mitgliedstaats zufließen;
- a...