Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Steuerrecht. Mehrwertsteuer. Erbringung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit Freizeitaktivitäten und der Verbesserung der körperlichen Fitness. Durch eine Registrierkasse und Kassenbons nachgewiesener Verkauf von Mehrfacheintrittskarten für den Zugang zu Dienstleistungen. Steuerbemessungsgrundlage. Irrtum über die Höhe des Steuersatzes. Grundsatz der steuerlichen Neutralität. Berichtigung der Steuerschuld aufgrund einer Änderung der Steuerbemessungsgrundlage. Nationale Praxis, die bei Fehlen einer Rechnung die Berichtigung des Mehrwertsteuerbetrags und die Erstattung der zu viel gezahlten Mehrwertsteuer nicht zulässt. Keine Gefährdung des Steueraufkommens. Einwand der ungerechtfertigten Bereicherung
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 1 Abs. 2, Art. 73, 78 Buchst. a
Beteiligte
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy |
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy |
Verfahrensgang
Naczelny Sąd Administracyjny (Polen) (Beschluss vom 23.06.2022; ABl. EU 2023, Nr. C 7/14) |
Tenor
Art. 1 Abs. 2 und Art. 73 in Verbindung mit Art. 78 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung
sind im Licht der Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Gleichbehandlung dahin auszulegen, dass
sie einer Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach in dem Fall, dass Gegenstände und Dienstleistungen unter Anwendung eines zu hohen Mehrwertsteuersatzes geliefert bzw. erbracht wurden, eine Berichtigung der geschuldeten Mehrwertsteuer mittels einer Steuererklärung mit der Begründung untersagt wird, dass über diese Umsätze keine Rechnungen ausgestellt worden seien, sondern Registrierkassenbons. Selbst unter diesen Umständen ist der Steuerpflichtige, der zu Unrecht einen zu hohen Mehrwertsteuersatz angewandt hat, berechtigt, bei der Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats einen Antrag auf Erstattung zu stellen, wobei sich die Steuerverwaltung nur dann auf eine ungerechtfertigte Bereicherung dieses Steuerpflichtigen berufen kann, wenn sie nach einer wirtschaftlichen Analyse unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände nachgewiesen hat, dass die mit der zu Unrecht erhobenen Steuer verbundene wirtschaftliche Belastung dieses Steuerpflichtigen vollständig neutralisiert worden ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 23. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 20. September 2022, in dem Verfahren
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy
gegen
B. sp. z o.o., vormals B. sp.j.,
Beteiligte:
Rzecznik Małych i Srednich Przedsiębiorców,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters N. Wahl (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Siebten Kammer, des Richters J. Passer sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy, vertreten durch B. Kołodziej und T. Wojciechowski,
- der B. sp. z o.o., vertreten durch R. Baraniewicz, T. Pabianski und J. Tokarski, Doradcy podatkowi, sowie A. Zubik, Radca prawny,
- des Rzecznik Małych i Srednich Przedsiębiorców, vertreten durch P. Chrupek, Radca prawny,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaite und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 16. November 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 und Art. 73 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112) im Licht der Grundsätze der Steuerneutralität, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy (Direktor der Finanzverwaltungskammer Bydgoszcz [Bromberg], Polen) und der B. sp.j. – nach Einreichung dieses Ersuchens nunmehr B. sp. z o.o. – wegen der mit dem Fehlen von Rechnungen begründeten Weigerung der Steuerverwaltung, zugunsten von B. eine Überzahlung der Mehrwertsteuer festzustellen, die sich aus von B. eingereichten berichtigten Mehrwertsteuererklärungen ergab.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände...