Entscheidungsstichwort (Thema)

Automatische Einstellung eines Finanzgerichtsverfahren auf dem Gebiet der MwSt wegen langer Verfahrensdauer, Italien

 

Leitsatz (amtlich)

Art. 4 Abs. 3 EUV und die Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verwehren, im Bereich der Mehrwertsteuer eine nationale Ausnahmevorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anzuwenden, die die automatische Einstellung von bei dem drittinstanzlichen Finanzgericht anhängigen Verfahren vorsieht, wenn diese Verfahren auf eine Klage zurückgehen, die mehr als zehn Jahre ‐ und in der Praxis mehr als 14 Jahre ‐ vor Inkrafttreten dieser Vorschrift erhoben wurde, und die Finanzverwaltung in den ersten beiden Gerichtsinstanzen unterlegen ist, wobei diese automatische Einstellung zur Folge hat, dass die in der zweiten Gerichtsinstanz ergangene Entscheidung rechtskräftig wird und die von der Verwaltung geltend gemachte Forderung erlischt.

 

Normenkette

AEUV Art. 4 Abs. 3; EWGRL 388/77 Art. 2, 22

 

Beteiligte

Belvedere Costruzioni

Ufficio IVA di Piacenza

Belvedere Costruzioni Srl

 

Verfahrensgang

Commissione tributaria di Bologna (Italien) (Urteil vom 22.09.2010; ABl. EU 2010, Nr. C 346/59)

 

Tatbestand

„Steuerwesen ‐ Mehrwertsteuer ‐ Art. 4 Abs. 3 EUV ‐ Sechste Richtlinie ‐ Art. 2 und 22 ‐ Automatische Einstellung der bei dem drittinstanzlichen Finanzgericht anhängigen Verfahren“

In der Rechtssache C-500/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Commissione tributaria centrale, sezione di Bologna (Italien), mit Entscheidung vom 22. September 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Oktober 2010, in dem Verfahren

Ufficio IVA di Piacenza

gegen

Belvedere Costruzioni Srl

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richterin A. Prechal, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas (Berichterstatter),

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. September 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,

‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Traversa und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. November 2011

folgendes

Urteil

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 4 Abs. 3 EUV und der Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Ufficio IVA di Piacenza (Mehrwertsteueramt Piacenza) und der Belvedere Costruzioni Srl (im Folgenden: Belvedere Costruzioni) über eine Mehrwertsteuerberichtigung für das Jahr 1982.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Nach Art. 2 der Sechsten Richtlinie unterliegen Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt, und die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer.

Rz. 4

Art. 22 der Sechsten Richtlinie bestimmt:

„…

(4) Jeder Steuerpflichtige hat innerhalb eines Zeitraums, der von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegen ist, eine Steuererklärung abzugeben. …

(5) Jeder Steuerpflichtige hat bei der Abgabe der periodischen Steuererklärung den sich nach Vornahme des Vorsteuerabzugs ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten. Die Mitgliedstaaten können jedoch einen anderen Termin für die Zahlung dieses Betrags festsetzen oder vorläufige Vorauszahlungen erheben.

(8) … [D]ie Mitgliedstaaten [können] weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden.

…“

Nationales Recht

Rz. 5

Art. 3 Abs. 2bis des Decreto-legge Nr. 40/2010 (GURI Nr. 71 vom 26. März 2010), das ‐ mit Änderungen ‐ in das Gesetz Nr. 73/2010 (GURI Nr. 120 vom 25. Mai 2010) umgewandelt wurde (im Folgenden: Decreto-legge Nr. 40/2010), lautet:

„Um die Dauer gerichtlicher Verfahren in Steuersachen innerhalb der Grenzen einer angemessenen Verfahrensdauer im Sinne der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten und] durch das Gesetz Nr. 848 vom 4. August 1955 ratifizierten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [im Folgenden: EMRK] zu halten, werden in Anbetracht der Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK anhängige Streitv...

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