Entscheidungsstichwort (Thema)
DBA, Besteuerung eines nicht realisierten Gewinns bei Sitzverlegung in anderen Mitgliedstaat
Leitsatz (amtlich)
1. Eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, ohne dass die Verlegung des Sitzes ihre Eigenschaft als Gesellschaft nach dem Recht des ersten Mitgliedstaats berührt, kann sich auf Art. 49 AEUV berufen, um die Rechtmäßigkeit einer ihr von dem ersten Mitgliedstaat anlässlich dieser Sitzverlegung auferlegten Steuer in Frage zu stellen.
2. Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass
‐ er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach der Betrag der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse beim Vermögen einer Gesellschaft endgültig ‐ ohne Berücksichtigung möglicherweise später eintretender Wertminderungen oder Wertzuwächse ‐ zu dem Zeitpunkt festgesetzt wird, zu dem die Gesellschaft aufgrund der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat aufhört, in dem ersten Mitgliedstaat steuerpflichtige Gewinne zu erzielen. Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob sich die besteuerten nicht realisierten Wertzuwächse auf Kursgewinne beziehen, die im Aufnahmemitgliedstaat angesichts der dort geltenden Steuerregelung nicht zum Ausdruck kommen können;
‐ er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die die sofortige Einziehung der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse bei den Vermögensgegenständen einer Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, zum Zeitpunkt dieser Verlegung vorschreibt.
Normenkette
AEUV Art. 49
Beteiligte
Inspecteur van de Belastingdienst Rijnmond/kantoor Rotterdam |
Verfahrensgang
Gerechtshof te Amsterdam (Niederlande) (Urteil vom 15.07.2010; ABl. EU 2010, Nr. C 328/19) |
Tatbestand
„Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat als den Gründungsmitgliedstaat der Gesellschaft ‐ Niederlassungsfreiheit ‐ Art. 49 AEUV ‐ Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse beim Vermögen einer Gesellschaft, die eine Sitzverlegung zwischen Mitgliedstaaten vornimmt ‐ Festsetzung des Steuerbetrags zum Zeitpunkt der Sitzverlegung ‐ Sofortige Einziehung der Steuer ‐ Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C-371/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Gerechtshof Amsterdam (Niederlande) mit Entscheidung vom 15. Juli 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juli 2010, in dem Verfahren
National Grid Indus BV
gegen
Inspecteur van de Belastingdienst Rijnmond/kantoor Rotterdam
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Tizzano in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues und K. Lenaerts (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin R. Silva de Lapuerta, der Richter K. Schiemann, E. Levits, A. Ó Caoimh, L. Bay Larsen und T. von Danwitz sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. Juni 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der National Grid Indus BV, vertreten durch F. Pötgens, belastingadviseur, D. Hofland und E. Pijnacker Hordijk, advocaten,
‐ der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels, M. de Ree und J. Langer als Bevollmächtigte,
‐ der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und C. Blaschke als Bevollmächtigte,
‐ der spanischen Regierung, vertreten durch M. Muñoz Pérez als Bevollmächtigten,
‐ der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und N. Rouam als Bevollmächtigte,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
‐ der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und J. Menezes Leitão als Bevollmächtigte,
‐ der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski und M. Pere als Bevollmächtigte,
‐ der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk und S. Johannesson als Bevollmächtigte,
‐ der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway als Bevollmächtigten im Beistand von K. Bacon, Barrister,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und R. Lyal als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. September 2011
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 49 AEUV.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der National Grid Indus BV (im Folgenden: National Grid Indus), einer Gesellschaft nach niederländischem Recht mit satzungsmäßigem Sitz in den Niederlanden, und dem Inspecteur van de Belastingdienst Rijnmond/kantoor Rotterdam (im Folgenden: Inspecteur) ...