Entscheidungsstichwort (Thema)
Berichtigung des Vorsteuerabzugs, Vorsteuerabzug aus Anzahlungen, Nichtausführung der angezahlten Leistung, Vorsteuerabzug bei Nichterhalt einer Leistung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Art. 65 und 167 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren das Recht auf Vorsteuerabzug hinsichtlich der Leistung einer Anzahlung dem potenziellen Erwerber der betreffenden Gegenstände nicht versagt werden darf, wenn diese Anzahlung geleistet und vereinnahmt wurde und zum Zeitpunkt dieser Leistung alle maßgeblichen Elemente der zukünftigen Lieferung als dem Erwerber bekannt angesehen werden konnten und die Lieferung dieser Gegenstände daher sicher erschien. Dem Erwerber darf ein solches Recht jedoch versagt werden, wenn anhand objektiver Umstände erwiesen ist, dass er zum Zeitpunkt der Leistung der Anzahlung wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die Bewirkung dieser Lieferung unsicher war.
2. Die Art. 185 und 186 der Richtlinie 2006/112 sind dahin auszulegen, dass sie unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren nationalen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegenstehen, nach denen die Berichtigung des Vorsteuerabzugs hinsichtlich einer für die Lieferung eines Gegenstands geleisteten Anzahlung voraussetzt, dass diese Anzahlung vom Lieferer zurückgezahlt wird.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 65, 167, 185-186
Beteiligte
Verfahrensgang
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Steuerrecht ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Lieferung von Gegenständen ‐ Art. 65 ‐ Art. 167 ‐ Leistung einer Anzahlung für den Erwerb eines Gegenstands, dessen Lieferung ausbleibt ‐ Strafrechtliche Verurteilung der gesetzlichen Vertreter des Lieferers wegen Betrugs ‐ Insolvenz des Lieferers ‐ Vorsteuerabzug ‐ Voraussetzungen ‐ Art. 185 und 186 ‐ Berichtigung durch die nationale Steuerbehörde ‐ Voraussetzungen“
In den verbundenen Rechtssachen C-660/16 und C-661/16
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidungen vom 21. September 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Dezember 2016, in den Verfahren
Finanzamt Dachau
gegen
Achim Kollroß (C-660/16)
und
Finanzamt Göppingen
gegen
Erich Wirtl (C-661/16)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits (Berichterstatter) und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger und des Richters F. Biltgen,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von Herrn Kollroß, vertreten durch Steuerberater F. Russ,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. Januar 2018
folgendes
Urteil
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 63, 65, 167, 185 und 186 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen zum einen Herrn Achim Kollroß und dem Finanzamt Dachau (Deutschland) und zum anderen Herrn Erich Wirtl und dem Finanzamt Göppingen (Deutschland) wegen der Weigerung dieser Finanzämter, Herrn Kollroß und Herrn Wirtl einen Abzug der Vorsteuer auf Anzahlungen zu gewähren, die für die Lieferung von Blockheizkraftwerken geleistet worden waren, die letztlich nicht geliefert wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 63 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.“
Rz. 4
Art. 65 dieser Richtlinie sieht vor:
„Werden Anzahlungen geleistet, bevor die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht ist, entsteht der Steueranspruch zum Zeitpunkt der Vereinnahmung entsprechend dem vereinnahmten Betrag.“
Rz. 5
Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.“
Rz. 6
Art. 167 dieser Richtlinie lautet:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“
Rz. 7
Art. 168 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt...