Leitsatz
Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 i.V.m. Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG dahingehend auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat gestatten, anstelle der Mehrwertsteuergruppe (des Organkreises) ein Mitglied der Mehrwertsteuergruppe (den Organträger) zum Steuerpflichtigen zu bestimmen?
2. Falls die Frage 1 verneint wird: Sind Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 i.V.m. Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG insoweit berufbar?
3. Ist bei der nach Rz 46 des EuGH-Urteils Larentia + Minerva (EU:C:2015:496, Rz 44 f.) vorzunehmenden Prüfung, ob das in § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG enthaltene Erfordernis der finanziellen Eingliederung eine zulässige Maßnahme darstellt, die für die Erreichung der Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Vermeidung von Steuerhinterziehung oder ‐umgehung erforderlich und geeignet ist, ein strenger oder ein großzügiger Maßstab anzulegen?
4. Sind Art. 4 Abs. 1, Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG dahingehend auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat gestatten, im Wege der Typisierung eine Person als nicht selbständig i.S. des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG anzusehen, wenn sie in der Weise finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen eines anderen Unternehmers (Organträgers) eingegliedert ist, dass der Organträger seinen Willen bei der Person durchsetzen und dadurch eine abweichende Willensbildung bei der Person verhindern kann?
Normenkette
§ 2 Abs. 1, Abs. 2 Nrn. 1 und 2, § 13a Abs. 1 UStG, § 41, § 73 AO, Art. 4 Abs. 1, Abs. 4 Unterabs. 1 und 2, Art. 21 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3 6. EG-RL (= EWGRL 388/77), § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG 1951, Anhang A Nr. 2 (zu Art. 4) EWGRL 228/67
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten darüber, ob im Jahr 2005 (Streitjahr) eine umsatzsteuerrechtliche Organschaft zwischen A als Organträgerin und der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) als Organgesellschaft bestand.
Die Klägerin ist eine GmbH. Gesellschafter der Klägerin sind die Körperschaft A (zu 51 %) und der C e.V. (zu 49 %). Alleiniger Geschäftsführer der Klägerin war im Streitjahr E, der zugleich alleiniger Geschäftsführer der A und geschäftsführender Vorstand des C e.V. war.
Die Klägerin legte dem Beklagten und Revisionskläger (FA) zwei Entwürfe eines Gesellschaftsvertrags (Version 1 und 2) vor. Das FA teilte 2014 mit, dass nur die Version 2 die Anforderungen an die finanzielle Eingliederung erfülle. Im Jahr 2005 beurkundet und ins Handelsregister eingetragen wurde jedoch Version 1. Danach verfügte A über keine Stimmrechtsmehrheit. Eine noch im Jahr 2005 beschlossene Änderung wurde erst im Jahr 2010 formwirksam vorgenommen und ins Handelsregister eingetragen.
Nach einer Außenprüfung verneinte das FA das Vorliegen einer Organschaft im Streitjahr. Die im Streitjahr von der Klägerin ausgeführten Umsätze gegenüber Dritten und gegenüber A seien damit bei der Klägerin als Unternehmerin zu erfassen. Gleichzeitig stehe ihr der Vorsteuerabzug zu.
Der Einspruch, zu dem A hinzugezogen wurde, blieb erfolglos.
Das FG (Schleswig-Holsteinisches FG, Urteil vom 6.2.2018, 4 K 35/17, Haufe-Index 11740400, EFG 2018, 1138) gab der Klage statt. Das FA habe zu Unrecht das Vorliegen einer Organschaft zwischen der Klägerin als Organgesellschaft und A als Organträgerin abgelehnt. Die finanzielle Eingliederung ergebe sich zwar (noch) nicht aus der im Streitjahr noch nicht wirksamen Version 2 des Gesellschaftsvertrags. Die Klägerin sei jedoch auch auf der Grundlage der Version 1 finanziell in das Unternehmen der A eingegliedert gewesen. Ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen dem Organträger und der Organgesellschaft sei keine notwendige Voraussetzung für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe i.S.d. Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL. Die Mehrheitsbeteiligung der A an der Klägerin ermögliche die rechtssichere Bestimmung der A als Organträgerin, da der C e.V. als Minderheitsgesellschafter von der Stellung als Organträger ausgeschlossen sei.
Entscheidung
Der BFH legte die im Leitsatz genannten vier Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
Hinweis
1. Wer geglaubt hatte, nach dem EuGH-Urteil Larentia+MinervaundMarenave (EuGH, Urteil vom 16.7.2015, C 108/14, C-109/14, BFH/NV 2015, 1549) könne durch den BFH zeitnah abschließend geklärt werden, wie es mit der deutschen Organschaft weitergeht, wurde durch die Folgerechtsprechung des BFH (BFH, Urteil vom 2.12.2015, V R 25/13, BFH/NV 2016, 500; vom 2.12.2015, V R 15/14, BFH/NV 2016, 506; vom 19.1.2016, XI R 38/12, BFH/NV 2016, 706; vom 1.6.2016, XI R 17/11, BFH/NV 2016, 1410) enttäuscht. Zu einer – m.E. nahe (um nicht zu sagen: auf der Hand) liegenden – einfachen Lösung (Öffnung der Organschaft für alle Personengesellschaften und nicht rechtsfähigen Personenvereinigungen als Organgesellschaften unter Beibehaltung der bisherigen Eingliederungsmerkmale) fand der BFH nicht.
2. Hinzu kam zwischenzeitlich ein weiteres...