Leitsatz
Wird § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 dahin ausgelegt, dass die Festsetzungsfrist unabhängig davon gewahrt sei, ob der rechtzeitig die zuständige Behörde verlassenden Bescheid dem Adressaten zugeht, muss der Bescheid unter einer Anschrift versandt worden sein, die das FA nach dem Inhalt der Steuerakten als zutreffend ansehen konnte. Liegt der letzte Gebrauch einer aus den Steuerakten hervorgehenden Anschrift mehr als zehn Jahre zurück, ist dies nicht der Fall.
Normenkette
AO 1977 § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1
Sachverhalt
Die Klage der Klägerin, einer GbR, gegen einen Grunderwerbsteuerbescheid war nach zehn Jahren rechtskräftig abgewiesen worden. Da die Vollziehung des Bescheids für die Dauer des Klageverfahrens ausgesetzt worden war, wollte das Finanzamt nunmehr Aussetzungszinsen festsetzen. Dazu stand ihm nach § 239 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Nr. 2 AO 1977 eine Frist von einem Jahr – beginnend mit Ablauf des Jahres des Eintritts der Rechtskraft – zur Verfügung.
Im letzten Monat der Frist versandte es den Zinsbescheid an einen vertretungsberechtigten Gesellschafter der Klägerin als Bekanntgabeadressaten unter einer nicht mehr zutreffenden Anschrift, die es den über zehn Jahre alten Unterlagen über den Grundstückserwerb in den Steuerakten entnommen hatte. Als der Bescheid als unzustellbar zurückkam, ermittelte es die zutreffende Anschrift und übersandte nach Fristablauf noch einmal einen Zinsbescheid.
Entscheidung
Der BFH hob den Zinsbescheid wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist auf.
Zwar werde § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 dahin ausgelegt, dass die Festsetzungsfrist unabhängig davon gewahrt sei, ob der rechtzeitig abgesandte Bescheid tatsächlich zugeht und damit wirksam wird; Voraussetzung sei aber, dass die Behörde alle Voraussetzungen eingehalten hat, die für den Erlass eines wirksamen Bescheids vorgeschrieben sind. Dazu gehört, dass der Bescheid nach dem Inhalt der Steuerakten hätte wirksam werden können.
Diese Voraussetzung sei nicht erfüllt, weil das Finanzamt auf eine nicht mehr zutreffende Adresse zurückgegriffen habe, die es nach dem Akteninhalt das letzte Mal vor über zehn Jahren verwendet hatte. Die Verwendung einer solch alten Adresse könne die fristwahrende Wirkung des § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 nicht auslösen.
Hinweis
Auch nach der Auslegung der Vorschrift durch den BFH, wie sie im obigen Leitsatz wiedergegeben ist, ist die Frist nur dann gewahrt, wenn nach ihrem Ablauf nochmals ein Bescheid versendet wird und dieser dem Empfänger tatsächlich zugeht. Die Festsetzung der durch den tatsächlich zugegangenen Bescheid erhobenen Steuer oder steuerlichen Nebenleistung soll dann deshalb nicht verjährt sein, weil noch rechtzeitig ein vergeblicher Bekanntgabeversuch unternommen worden war.
Diese Vorstellung ist gewöhnungsbedürftig, weil grundsätzlich ein nicht zugegangener Bescheid keine Wirksamkeit entfaltet, hier aber insofern Rechtswirkungen entfalten soll, als er die Festsetzungsfrist wahren soll. Störend ist darüber hinaus, dass § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 vom "Steuerbescheid" spricht, darunter aber gemäß § 155 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 "der nach § 122 Abs. 1 AO 1977 bekannt gegebene Verwaltungsakt" zu verstehen ist.
Hintergrund dieser Auslegung durch den BFH ist, die vielfach schwer zu widerlegende, aber erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist erhobene Behauptung abzuschneiden, den Bescheid nicht erhalten zu haben. Die vorliegende Entscheidung will erkennbar einer Ausdehnung der Rechtsprechung zu § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 auf Sachverhalte entgegenwirken, bei denen es nicht darum geht, die Wahrung der Frist von den Zufälligkeiten des Bekanntgabevorgangs unabhängig zu machen, sondern darum, dass das Finanzamt bereits beim ersten Bekanntgabeversuch die Rechtsprechung zu § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 gleichsam einplant.
Verfehlt wäre es, in den genannten zehn Jahren, die der letzte Gebrauch der Adresse zurücklag, eine starre Grenze zu sehen. Die zehn Jahre ergaben sich aus dem Streitfall. Wie lange der letzte Gebrauch der aus den Akten hervorgehenden Adresse zurückliegen muss, damit die Adresse nicht mehr als aktuelle Anschrift angesehen werden kann, ist vielmehr eine Frage des Einzelfalls.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 20.9.2000, II R 63/98