Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderung einer Kindergeldfestsetzung wegen nachträglicher Kenntnis über den Bezug von Halbwaisenrente. Erkennbarkeit einer Prognoseentscheidung der Familienkasse. Anlaufhemmung nach § 175 Abs. 1 S. 2 AO auch für Änderungen nach Abs. 2 der Vorschrift. Verhältnis von § 70 Abs. 4 EStG 2002 zu § 175 AO
Leitsatz (redaktionell)
1. Die für eine Änderung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG 2002 notwendige Prognose der Einkünfte und Bezüge eines Kindes im laufenden Kalenderjahr setzt nicht voraus, dass die Familienkasse eine Berechnung erstellt und diese dokumentiert hat.
2. Die nachträgliche Kenntnis des FA über den Bezug einer – die Einkünfte und Bezüge von Kindern gem. § 32 Abs. 4 S. 2 EStG 2002 erhöhenden – Halbewaisenrente lässt sich zwar allenfalls als nachträgliches Bekanntwerden neuer Tatsachen würdigen; im Kindergeldrecht ergibt sich aber eine Rückwirkung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO auf Grund der von der Familienkasse zu treffenden Prognose, die durch die tatsächlich erzielten Einkünfte (rückwirkend) ersetzt wird (entgegen Sächsisches FG v. 2.4.2003 1 K 1491/99 Kg).
3. Unabhängig davon, ob § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO oder § 175 Abs. 2 AO die zutreffende Korrekturnorm ist, gilt in beiden Fällen die Anlaufhemmung des § 175 Abs. 1 S. 2 AO.
4. Die Korrekturnorm des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO sowie des § 175 Abs. 2 AO ist neben den § 70 Abs. 4 EStG 2002 anwendbar.
Normenkette
EStG 2002 § 70 Abs. 4, § 32 Abs. 4 S. 2; AO § 175 Abs. 1 Sätze 2, 1 Nr. 2, Abs. 2
Nachgehend
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Einkünfte und Bezüge der beiden Kinder der Klägerin über dem sog. Grenzbetrag lagen und ob die Festsetzung des Kindergelds aufgehoben werden durfte.
Die Klägerin ist Mutter der Kinder B., geboren am 12. Februar 1983, und C., geboren am 01. Juli 1985. Der Vater der Kinder, Herr D., war am 04. Januar 1996 verstorben.
Die Beklagte übersandte der Klägerin am 15. Dezember 2000 im Hinblick auf die bevorstehende Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes B. eine Mitteilung über die Voraussetzungen für die Fortzahlung des Kindes ab März 2001 (Bl. 25 und 31 der Streitakte) sowie das Formular „Schulbescheinigung”. In der Mitteilung hieß es u.a:
„Eine Weiterzahlung ist jedoch nur dann möglich, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes bestimmte Grenzbeträge nicht überschreiten. Näheres enthält das beigefügte Merkblatt über Kindergeld. ….
Hat Ihr Kind – ggf. neben einer Ausbildungsvergütung – Einnahmen (z. B. Einnahmen aus einer nichtselbständigen oder selbständigen Arbeit oder aus einem Gewerbebetrieb, Erträge von über 100 DM aus Kapitalvermögen, „BAföG”, Berufsausbildungsbeihilfe, Ausbildungsgeld, Krankengeld, Arbeitslosengeld, Unterhaltsleistungen des – auch geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden – Ehegatten des Kindes), müssen Sie dies der Familienkasse anzeigen.
Bitte teilen Sie auch alle sonstigen Änderungen, die für den Anspruch von Bedeutung sind, jeweils unverzüglich mit. Näheres finden Sie im Merkblatt. …”
Die Klägerin übersandte am 09. Januar 2001 die ausgefüllte Schulbescheinigung an die Beklagte (Bl. 51 der Kindergeldakte, Band I); danach würde B. die Schule noch bis Juli 2002 besuchen. Angaben zu den Einkünften und Bezügen ihres Sohnes B. machte die Klägerin nicht. Die Beklagte gewährte für den Sohn B. seit März 2001 Kindergeld; die entsprechende Kassenanordnung datiert vom 11. Januar 2001.
Mit – elektronisch gefertigtem – Schreiben vom 03. Juni 2002 wies die Beklagte auf die Beendigung des Kindergelds mit Ablauf des Juli 2002 hin. In diesem Schreiben (Bl. 32 der Streitakte) hieß es u. a:
„Hat Ihr Kind – ggf. neben einer Ausbildungsvergütung – Einnahmen (z. B. Einnahmen aus einer nichtselbständigen oder selbständigen Arbeit oder aus einem Gewerbebetrieb, Erträge von über 51 EUR aus Kapitalvermögen, „BAföG”, Studienbeihilfe, Berufsausbildungsbeihilfe, Ausbildungsgeld, Krankengeld, Unterhaltsleistungen des – auch geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden – Ehegatten des Kindes), müssen Sie dies der Familienkasse anzeigen. Sofern Ihr Kind Einnahmen in der Vergangenheit hatte, müssen Sie die Familienkasse hierüber ebenfalls unterrichten; bereits mitgeteilte Einnahmen brauchen nicht nochmals angezeigt zu werden.”
Die Rückseite des Schreibens (Bl. 33 der Streitakte) enthielt Hinweise zu den Voraussetzungen der Kindergeldgewährung, nicht jedoch zu Einnahmen und Bezügen. Die Klägerin übersandte daraufhin am 24. Juni 2002 eine ausgefüllte Ausbildungsbescheinigung (Bl. 54 der Kindergeldakte, Band I). Angaben zu den Einkünften und Bezügen ihres Sohnes B. machte sie nicht.
Die Beklagte gewährte für den Sohn B. weiterhin Kindergeld, mit Ausnahme jedoch des Zeitraums Oktober 2002 bis September 2003, in dem B. den Zivildienst absolvierte. In der Folgezeit übersandte die Klägerin bzw. ihr Sohn B. zwar die erforderlich...