rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Erlass einer Kindergeld-Rückforderung bei Abzug bei Sozialleistungen (sog. Doppelkürzungsfälle). Verletzung der Mitwirkungspflicht
Leitsatz (redaktionell)
1. In den Fällen der „Doppelkürzung” des Kindergelds sowohl bei den Sozialleistungen als auch beim Kindergeld durch dessen Rückforderung liegt eine vom Gesetzgeber nicht vorgesehene und daher unbillige Rechtsfolge vor, die den Erlass gebietet.
2. Auf eine Mitwirkungspflichtverletzung des Anspruchstellers – hier in Gestalt unterlassener Anzeige des Verlusts seines Arbeitsplatzes gegenüber der Familienkasse – kommt es grundsätzlich nicht an.
Normenkette
AO § 227; EStG § 31 Abs. 1; SGB II § 11 Abs. 2, § 40 Abs. 1 S. 2; SGB X § 44 Abs. 1, 4
Nachgehend
Tenor
Unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 28.02.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18.07.2018 wird die Beklagte verpflichtet, den Kindergeldrückforderungsanspruch in Höhe von 11.113,50 EUR zu erlassen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Erlass einer Rückforderung von Kindergeld, das der Klägerin in ihrer Bedarfsgemeinschaft vom Jobcenter in Abzug gebracht worden war.
I.1.
Die 1984 geborene, bangladeschische, in C wohnhafte Klägerin erhielt aufgrund Bewilligungsbescheid der Familienkasse B vom 29.09.2015 Kindergeld für ihre Kinder D, geboren 2002, E, geboren 2003, und F, geboren 2006, ab September 2015 (FG-A Bl. 36) mit der Begründung, sie halte sich seit mindesten drei Jahren rechtmäßig oder geduldet in Deutschland auf und sei seit dem Monat September 2015 erwerbstätig.
2.
Die Klägerin verlor ihren Arbeitsplatz, ohne der Familienkasse Mitteilung zu machen.
3.
Mit Bescheid vom 09.11.2017 wurde die Festsetzung des Kindergelds ab Februar 2016 aufgehoben mit der Begründung, die Voraussetzungen lägen nicht vor (FG-Bl. 43). Zugleich wurde das Kindergeld für Februar 2016 bis September 2017 zurückgefordert, in der Summe 11.574 EUR.
4.
Im Rückforderungszeitraum bezog die Klägerin für sich, ihre Kinder und den ebenfalls in der Bedarfsgemeinschaft lebenden G, Jahrgang 1977, Leistungen nach dem SGB II (sog. Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld) vom Jobcenter C, bei denen der Kindergeldanspruch mindernd berücksichtigt worden war. Aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit veränderte sich die Höhe der Leistungen, das Kindergeld wurde jedoch weiter angerechnet. Am 12.01.2018 beantragte sie die Überprüfung der Leistungshöhe vor dem Hintergrund der Kindergeldrückforderung. Mit zwei Bescheiden vom 22.01.2018 lehnte das Jobcenter eine nachträgliche Erhöhung und Nachzahlung seiner Leistungen ab. Für den Zeitraum bis 31.12.2016 sei der Antrag ohne Sach- und Rechtsprüfung abzulehnen, weil eine Rücknahme und Nachzahlung gemäß § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II i. V. m. § 44 Abs. 4 SGB X nur möglich sei für einen Zeitraum von einem Jahr, gerechnet ab Beginn des Jahres des Rücknahmeantrages. Für das Jahr 2017 seien die Bewilligungsbescheide bei ihrem Erlass rechtmäßig gewesen. Die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung des Kindergeldes habe keine Auswirkungen auf die Höhe des ALG-II-Anspruchs für den von der Aufhebung betroffenen Zeitraum. Das Kindergeld sei tatsächlich zugeflossen, daher sei es gemäß § 11 Abs. 2 SGB II für die Monate des Zuflusses als Einkommen zu berücksichtigen (Zuflussprinzip). § 44 Abs. 1 SGB X sei nicht einschlägig, da zum Zeitpunkt des Erlasses der Bewilligungsbescheide weder das Recht unrichtig angewendet noch von einem Sachverhalt ausgegangen worden sei, der sich nachträglich als unrichtig erwiesen habe (Erlass-A Bl. 19).
5.
In den Leistungsbewilligungsbescheiden des Jobcenters ist jeweils ausgeführt (Erlass-A Bl. 51, 56, 61, 66, 70, 81): „Anzurechnendes Einkommen deckt zunächst die Bedarfe zur Sicherung des Lebensunterhalts. Das nach dieser Anrechnung verbleibende Einkommen deckt die Bedarfe für Unterkunft und Heizung.” Da der Regelbedarf für Kinder etwas höher ist als das Kindergeld, kommt es allein wegen des Kindergeldes nicht zu einer Kürzung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung, allenfalls dann, wenn zusätzlich die erwachsenen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu berücksichtigendes Einkommen haben, das teilweise den Kindern zugerechnet wird.
6.
Auch nach dem Rückforderungszeitraum bezog die Klägerin weiterhin Leistungen zum Lebensunterhalt für ihre Familie (Erlass-A Bl. 95, 106).
II.1.
Den Antrag auf Erlass der Kindergeldrückforderung lehnte die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit H, Inkassoservice, mit Bescheid vom 28.02.2016 im Wesentlichen ab (Erlass-A Bl. 116 = FG-A Bl. 10: Teilerlass in Höhe von 576,00 EUR, Ab...