Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Kinderfreibeträge in den Jahren 2017 bis 2020, der Besteuerung einer alleinerziehenden Mutter nach dem Grundtarif sowie der Entfernungspauschale
Leitsatz (redaktionell)
1. Begehrt der Steuerpflichtige eine Herabsetzung der festgesetzten Steuer mit der Begründung, dass eine entscheidungserhebliche Steuerrechtsnorm nicht mit höherrangigem Recht, also dem Grundgesetz oder dem Unionsrecht, vereinbar sei, und hat das Finanzamt den angegriffenen Bescheid wegen dieser Frage im Hinblick auf ein bereits anhängiges Musterverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig erlassen, besteht weder für den Einspruch noch für eine Klage ein Rechtsschutzbedürfnis, sofern feststeht, dass sich die verfassungs- oder europarechtliche Streitfrage durch die Entscheidung in dem Musterverfahren erledigen wird (im Streitfall: von alleinerziehender Mutter mit einem minderjährigen und einem volljährigen Kind in Ausbildung erhobene Rüge der Verfassungswidrigkeit der Höhe der Kinderfreibeträge in den Jahren 2017 bis 2020).
2. Die Besteuerung einer alleinerziehenden geschiedenen Mutter mit Kindern nach dem Grundtarif anstelle einer Besteuerung nach dem Splittingtarif ist verfassungsgemäß.
3. Auch aus verfassungsrechtlichen Gründen besteht kein Anspruch darauf, dass die Kosten für die Fahrten von der Wohnung zur Arbeitsstätte mit einem höheren Betrag als der in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG geregelten Entfernungspauschale als Werbungskosten abgezogen werden.
Normenkette
EStG § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4, § 32 Abs. 6 Sätze 1-2, § 32a Abs. 1, 5; FGO § 40 Abs. 2; AO § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3; GG Art. 3 Abs. 1, 6
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Klägerin auferlegt.
Tatbestand
Die Klägerin wurde in den Streitjahren nach dem Grundtarif besteuert. Sie ist seit dem Jahr 2009 geschieden und Mutter von drei Kindern (geboren am 18. April 2001 und Zwillinge geboren am 24. August 2004), die in den Streitjahren bei ihr im Haushalt wohnten.
Sie erzielte in den Streitjahren (2017 bis 2020) Einkünfte i. H. v. 198.430 EUR (2017), 167.077 EUR (2018), 179.342 EUR (2019) und 193.531 EUR (2020). Bei der Ermittlung der Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit wurden Entfernungspauschalen i. H. v. 882 EUR (2017), 866 EUR (2018), 862 EUR (2019) und 117 EUR (2020) in Abzug gebracht. Hierbei berücksichtigte der Beklagte die gesetzliche Pauschale von 0,30 EUR je Entfernungskilometer. Bei der Klägerin kamen ferner der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende i. H. v. 2.388 EUR (2017 bis 2019) und i. H. v. 4.488 EUR (2020) sowie Kinderfreibeträge aller drei Kinder (3x 4.998 EUR in 2017, 3x 5.034 EUR in 2018 2x 5.130 EUR und 1x 7.620 EUR in 2019 und 2x 5.226 EUR und 1x 7.812 EUR in 2020) in Abzug. Ausgezahltes Kindergeld wurde für 2017 i. H. v. 2x 1.152 EUR und 1x 1.188 EUR, für 2018 i. H. v. 2x 1.164 EUR und 1x 1.200 EUR, für 2019 i. H. v. 2.388 EUR, 1.194 EUR und 1.230 EUR sowie für 2020 i. H. v. 2.748 EUR, 1.374 EUR und 1.410 EUR der tariflichen Einkommensteuer hinzugesetzt. Die einzelnen Besteuerungsgrundlagen sind zwischen den Beteiligten unstreitig.
Der Beklagte setzte die Einkommensteuer für 2017 mit Bescheid vom 11. Oktober 2018 auf 63.200 EUR, für 2018 mit Bescheid vom 20. Februar 2020 auf 50.162 EUR, für 2019 mit Bescheid vom 01. September 2020 auf 57.443 EUR und für 2020 mit Bescheid vom 09. September 2021 auf 62.783 EUR fest. Die Festsetzungen führten unter Anrechnung von Lohnsteuerabzugsbeträgen und Kapitalertragsteuer zu Erstattungen von 7.281 EUR (2017), 6.264 EUR (2018), 4.160 EUR (2019) und 2.604 EUR (2020).
Ausweislich der Bescheide waren diese jeweils nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Abgabenordnung –AO– teilweise vorläufig. In den Begründungen wurde dazu u.a. ausgeführt:
”Die Festsetzung der Einkommensteuer ist gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich
Gegen die Bescheide für 2017 bis 2019 legte die Klägerin jeweils fristgerecht Einsprüche ein (Blatt 176 f. der Einkommensteuerakte für 2017; Blatt 38 f. der Einkommensteuerakte für 2018/2019 sowie Blatt 97 der Einkommensteuerakte 2018/2019). Hierbei begehrte die Klägerin jeweils eine Besteuerung nach dem Splittingtarif. Die Bevollmächtigte ergänzte die Ausführungen für 2017 und 2018 zum Splittingverfahren und zu den Kinderfreibeträgen (Blatt 41 bis 61 der Einkommensteuerakte für 2018/2019). Für 2020 legte die Klägerin ebenfalls Einspruch ein und verwies inhaltlich auf die Ausführungen der Bevollmächtigten für die vorherigen Streitjahre (Blatt 62 der Gerichtsakte 1 K 1153/21).
Mit verbundener Einspruchsentscheidung vom 26. Oktober 2020 verwarf der Beklagte die Einsprüche für 2017 bis 2019 hinsichtlich der Beanstandung der Höhe der Kinderfreibeträge als unzulässig. Im Übrigen wies er die Einsprüche als unbegründet zurück. Die Rechtsfrage, ob eine Besteuerung Alleinerziehender nach dem...