Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch in Deutschland bei mehreren Wohnsitzen eines Steuerpflichtigen und vorübergehendem überwiegendem Aufenthalt in Schweden
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Wesen eines „Wohnsitzes” im steuerrechtlichen Sinne besteht darin, dass objektiv die Wohnung ihrem Inhaber wann immer er es wünscht als Bleibe zur Verfügung steht und von ihm auch subjektiv zur entsprechenden Nutzung bestimmt ist. Maßgebend sind der objektive Zustand, das „Innehaben” einer Wohnung und Umstände, die darauf schließen lassen, dass der Steuerpflichtige die Wohnung beibehalten und benutzen wird (umfangreiche Rechtsprechungsnachweise zum Begriff des „Wohnsitzes” und des „gewöhnlichen Aufenthalts).
2. § 8 AO geht erkennbar von der Gleichwertigkeit aller Wohnsitze einer Person aus und lässt keine Differenzierung zwischen „Hauptwohnsitz” und „Nebenwohnsitz” zu.
3. Ein Steuerpflichtiger kann daher gleichzeitig mehrere Wohnsitze i.S. des § 8 AO haben und auch dann i. S. d. § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG in Deutschland kindergeldanspruchsberechtigt sein, wenn er mit seinen Kindern überwiegend in einem Haushalt in einem anderen EU-Staat lebt, aber durch unregelmäßige Aufenthalte im Inland in der Wohnung eines Familienangehörigen einen weiteren Wohnsitz begründet und aufrechterhält.
4. Es spricht für einen weiteren Wohnsitz der vorübergehend weitaus überwiegend in Schweden lebenden Steuerpflichtigen in Deutschland und damit für eine Kindergeldanspruchsberechtigung, wenn sie u. a. im streitigen Zeitraum mit ihrem damaligen Ehemann zusammen in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig war, in Deutschland über eine Adresse verfügte, unter der sie jederzeit wohnen konnte, wenn sie zudem amtlich mit ihren Kindern noch in Deutschland gemeldet war und wenn weder sie noch ihr damaliger Ehemann in Schweden Kindergeld oder vergleichbare Leistungen zum Familienleistungsausgleich bezogen haben.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63; AO §§ 8-9
Tenor
Die Beklagte wird verpflichtet, den Bescheid vom … wegen Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab … und Erstattung überzahlten Kindergeldes für die Monate … bis … in Höhe von … EUR in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom … aufzuheben und … EUR an die Klägerin auszuzahlen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn die Klägerin nicht zuvor in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Kostenanspruchs Sicherheit geleistet hat.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und Erstattung überzahlten Kindergeldes für die Kinder der Klägerin
- … (geb. … – im Folgenden auch: „L.”),
- … (geb. … – im Folgenden auch: „H.”) bzw.
- … (geb. … – im Folgenden auch: „B.”).
Die Klage richtete sich ursprünglich gegen zwei Aufhebungs- und Erstattungsbescheide der Familienkasse vom … in Gestalt der dazu ergangenen zwei Einspruchsentscheidungen vom …
Der angefochtene erste Bescheid vom … bezog sich auf die Monate … bis …(= 20 Monate) und verfügte für den genannten Zeitraum die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 2 EStG sowie die Erstattung überzahlten Kindergeldes in Höhe von … EUR. Er wurde mittlerweile durch die Beklagte aufgehoben. Das Verfahren ist insoweit in der Hauptsache erledigt (s. dazu Protokoll der mündlichen Verhandlung und Beschlüsse v. …).
Mit dem angefochtenen zweiten Bescheid vom … verfügte die Familienkasse die
- • Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab … nach § 70 Abs. 2 EStG und
- • Erstattung überzahlten Kindergeldes für die Monate … bis … (= 12 Monate) in Höhe von … EUR nach § 37 Abs. 2 AO.
Zur Begründung führte sie aus:
„… Nach § 62 EStG hat Anspruch auf Kindergeld, wer seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat oder im Ausland wohnt, aber in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird. Nach den hier vorliegenden Unterlagen sind diese Anspruchsvoraussetzungen ab … nicht mehr gegeben.
Kindergeld wurde aufgrund der oben genannten Festsetzung für den Zeitraum von … bis … in Höhe von … Euro überzahlt.
Dieser Betrag ist nach § 37 Abs. 2 Abgabenordnung zu erstatten. Es wird gegen die Nachzahlung des Kindergeldes in Höhe von … EUR (Siehe Bescheid ab …) aufgerechnet, so dass noch eine Forderung in Höhe von … EUR besteht.
Eine Einzahlung des überzahlten Betrages ist vorerst nicht erforderlich, da der ausländische Träger für Familienleistungen um Erstattung des zu Unrecht gewährten Kindergeldes aus Ihrem dortigen Anspruch auf Familienleistungen gebeten wurde. Soweit eine Erstattung durch den ausländischen Träger nicht in Betracht kommt, bleiben Sie erstattungspflichtig. …”
Die Klägerin persönlich legte gegen diesen Bescheid mit Schreiben vom … „Widerspruch” ein. Mit Anwaltsschriftsatz vom … legte auch der Prozessbevollmächtigte...