Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderung der bestandskräftigen Prognoseentscheidung hinsichtlich der Kindeseinkünfte nach § 70 Abs. 4 EStG wegen Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge
Leitsatz (redaktionell)
1. Einem Kindergeldantrag, der aufgrund des Beschlusses des BVerfG zur Berücksichtigung der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge bei der Berechnung nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG (BVerfG v. 11.1.2005, 2 BvR 167/02, DStR 2005 S. 911) in 2005 erneut gestellt wird, steht die bestandskräftige, rechtsfehlerhafte Ablehnung der Kindergeldfestsetzung im Dezember 2004 wegen voraussichtlicher Grenzbetragsüberschreitung im Veranlagungszeitraum 2004 nicht entgegen. Der Prognose-Bescheid ist nach § 70 Abs. 4 EStG zu ändern, wenn der Jahresgrenzbetrag wegen nachträglichem Bekanntwerdens der tatsächlichen Höhe der Einkünfte und Bezüge (hier: der Höhe der Sozialversicherungsbeiträge) nunmehr unterschritten wird.
2. Zur Aufhebung und Änderung von Kindergeldbescheiden führende nachträglich bekannt gewordene Tatsachen i.S. des § 70 Abs. 4 EStG sind solche Tatsachen, die im Zeitpunkt des Abschlusses der Willensbildung des für die Kindergeldfestsetzung zuständigen Beamten noch nicht bekannt waren.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 S. 2, § 70 Abs. 4; AO § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Tenor
Der Bescheid vom 23. August 2005 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. Dezember 2005 wird aufgehoben und Kindergeld für das Kind A… für die Monate Januar bis Juni und Oktober bis Dezember 2004 gewährt.
Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.
Tatbestand
Der Kläger ist Vater des im Dezember 1980 geborenen Kindes A…, der sich bis Juni 2004 in der Berufsausbildung zum technischen Zeichner und ab 15. Oktober 2004 im Studium Maschinenbau befand.
Der Sohn A… des Klägers erzielte Einkünfte und Bezüge – unter Berücksichtigung der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge – unterhalb der Einkunftsgrenze.
Die Beklagte hatte den Antrag auf Gewährung von Kindergeld für A… mit Bescheid vom 10. Dezember 2004 abgelehnt, da die Einkünfte und Bezüge des Kindes – ohne Berücksichtigung der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge – die anteilige gesetzliche Einkunftsgrenze überstiegen. Mit Einspruchsentscheidung vom 29. Dezember 2004 war der Einspruch des Klägers als unbegründet zurückgewiesen worden.
Im Juni 2005 stellte der Kläger aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zur Berücksichtigung der (gesetzlichen) Sozialversicherungsbeiträge (BVerfG Beschluss vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02, Deutsches Steuerrecht – DStR – 2005, 911) einen erneuten Antrag auf Gewährung von Kindergeld. Diesen lehnte die Familienkasse mit Bescheid vom 23. August 2005 ab. Der hiergegen erhobene Einspruch hatte keinen Erfolg.
Der Kläger hat fristgerecht Klage vor dem Finanzgericht erhoben. Er trägt vor, die Entscheidung der Familienkasse aus dem Jahr 2004 für das Jahr 2004 sei lediglich eine Prognoseentscheidung, die nach Ablauf des Jahres jederzeit überprüft und geändert werden könne.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 23. August 2005 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. Dezember 2005 aufzuheben und Kindergeld für das Kind A… für die Monate Januar bis Juni und Oktober bis Dezember 2004 zu gewähren
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung ergeht gemäß § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung – FGO – mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.
Dem Kläger steht Kindergeld für die Monate Januar bis Juni und Oktober bis Dezember 2004 für ein in Ausbildung befindliches Kind zu. Die Einkünfte und Bezüge des Kindes A… liegen unter Berücksichtigung der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge unter dem anteiligen Grenzbetrag (vgl. BVerfG Beschluss vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02, DStR 2005, 911).
Einer Festsetzung von Kindergeld für den streitigen Zeitraum steht die Bestandskraft des Bescheides vom 10. Dezember 2004 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29. Dezember 2004 nicht entgegen. Denn die Durchbrechung der Bestandskraft ist durch die Regelung des § 70 Abs. 4 Einkommensteuergesetz – EStG – gedeckt. Nach dieser Vorschrift ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten. Unter welchen Voraussetzungen eine Unterschreitung des Grenzbetrages nach § 32 Abs. 4 EStG nachträglich bekannt geworden ist, ist im Einkommensteuergesetz selbst nicht geregelt. Infolgedessen sind die Voraussetzungen dieses Merkmals nach Maßgabe von Rechtsprechung und Schrifttum zu der insoweit gleichlautenden Regelung des § 173 Abgabenordnung – AO – zu bestimmen. Danach sind zur Aufhebung und Änderung von Kindergeldbescheiden führende nachträglich bekannt gewordene Tatsachen i.S. des § 70 Abs. 4 EStG solche Tatsachen, die im Zeitpunkt des Abschlusses der Willensbildung des für die Kindergeldfestsetzung zuständigen Beamt...