Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine abgabenrechtliche Haftung für Arbeitskammerbeiträge. Voraussetzungen für Betriebsübernehmerhaftung
Leitsatz (redaktionell)
1. Arbeitskammerbeiträge können nicht im abgabenrechtlichen Haftungswege geltend gemacht werden (Anschluss an Urteile des 2. Senats des FG des Saarlandes vom 22.10.1987 2 K 203/87 und vom 23.5.1990 2 K 57/88).
2. Die Überschuldung eines Unterehmens schließt eine Betriebsübernehmerhaftung nach § 75 Abs. 1 Satz 1 AO nicht von vornherein aus, weil das Unternehmen allein aufgrund seiner Überschuldung noch nicht aufgehört hat, ein Unternehmen zu sein, das - als lebendes - fortgeführt werden kann.
3. Eine Erwerberhaftung nach § 75 AO kommt auch dann in Betracht, wenn der Inhaber eines Kartonageunternehmens beim Gewerbeamt eine Betriebsaufgabe und seine Tochter eine Betriebsneuerichtung angemeldet hat und die Tochter den Fahrzeugpark, die sonstigen Betriebsmittel und einen verminderten Kundenstamm gegen Übernahme nur der mit diesen Aktivposten verbundenen Verbindlichkeiten des Vaters übernommen hat, weil das von der Tochter übernommene Betriebsvermögen die wesentliche organisatorische Zusammenfassung derjenigen Betriebsmittel darstellt, die notwendig ist, das Kartonageunternehmen weiter betreiben zu können.
4. Der Betriebsübernehmerhaftung steht auch nicht entgegen, dass ein Untenehmen angesichts einer hohen Überschuldung sowohl vor als auch nach der Übernahme des Aktivvermögens weder vergleichsfähig noch konkursfähig gewesen ist.
5. Die Betriebsübernehmerhaftung des § 75 Abs. 1 Satz 1 AO greift auch dann, wenn ein bereits eingestellter Betrieb sich ohne großen Aufwand wieder in Gang setzen lässt.
6. Für die Erwerberhaftung nach § 75 Abs. 1 AO ist allein entscheidend, dass mit den übernommenen Unternehmensmitteln Einnahmen erzielbar sind, die zur Tilgung der alten Steuerschulden des Betriebs hätten eingesetzt werden können.
7. Einer Erwerberhaftung nach § 75 Abs. 1 Satz 1 AO steht bei im Sicherungs- oder Vorbehaltseigentum Dritter stehenden Betriebsgrundlagen jedenfalls dann nichts entgegen, wenn der Betriebsübernehmer die wesentlichen sicherungsübereigneten Betriebsgrundlagen mit Zustimmung des oder der Sicherungsnehmer vom Sicherungsgeber erwirbt.
8. Das Eingehenmüssen von entsprechenden Bankverbindlichkeiten zur Aufbringung des Kaufpreises für die als wesentliche Betriebsgrundlagen übernommenen Aktivposten des Unternehmens ist keine haftungsschädliche Betriebsinvestition, sondern eine haftungsunschädliche Erwerberinvestition.
Normenkette
AO 1977 § 75 Abs. 1 Sätze 1-2, § 191 Abs. 1, § 75 Abs. 2
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Inhaftungnahme der Klägerin als Betriebsübernehmerin.
Die Klägerin ist die Tochter von Herrn J C (Bl. 18). Dieser betrieb in S auf einem von der Fa. E gemieteten Grundstück (Bl. 2 RbA) ein Rohprodukte-Unternehmen (Kartonagen, Bl. 3 RbA), dessen Bilanz zum 31. Dezember 1992 auf der Aktivseite einen Fehlbetrag von 654.214,03 DM bei einer Bilanzsumme in Höhe von 766.030,33 DM auswies (Bl. 10, 24). In 1992 erwirtschaftete das Unternehmen bei einem Umsatz von 211.980 DM einen Verlust in Höhe von 34.002,30 DM (Bl. 10, 24).
Am 16. Dezember 1992 meldete der Vater der Klägerin seinen Betrieb bei der Stadt S „wegen Aufgabe eines weiterhin bestehenden Betriebes” ab. Als künftiger Betriebsinhaber wurde die Klägerin angegeben (Bl. 17 Haftung). Diese erwarb durch Kaufvertrag vom 1. Januar 1993 (Bl. 30 f. Haftung) von ihrem Vater drei LKW Mercedes Benz, einen – von ihr bereits darlehensweise vorfinanzierten (Bl. 17) – LKW MAN, einen Schnell-Lader, einen Kompressor, einen Gabelstapler, eine Ballenpresse, 30 Absetzmulden sowie geringwertige Kleinmaschinen und Werkzeuge. Der Kaufpreis belief sich einschließlich Umsatzsteuer auf insgesamt 199.295 DM und wurde mit Verbindlichkeiten des Vaters – u.a. gegenüber der Fa. Mercedes Benz, der Lieferantin des Gabelstablers und der Sparkasse S – in Höhe von insgesamt 209.099,62 DM verrechnet. Weitere Verbindlichkeiten des Verkäufers wurden ausdrücklich nicht übernommen. Zusätzlich wurde ein Darlehen der Klägerin an ihren Vater über 30.000 DM mit dem Wert des Kundenstammes des väterlichen Unternehmens, der mit netto 10.000 DM angesetzt wurde, verrechnet.
Mit Schreiben vom 1. Juli 1993 (Bl. 15 Haftung) kündigte der Beklagte der Klägerin ihre Inhaftungnahme nach § 75 Abgabenordnung – AO – für rückständige Umsatz- und Lohnabzugssteuern des Unternehmens ihres Vaters betreffend die Zeit von April 1991 bis Dezember 1992 an, wegen welcher Abgabenschulden entsprechende Vollstreckungsversuche des Finanzamtes – FA – erfolglos verlaufen waren (Bl. 74 ff. BeitrA). Daraufhin berichtigten Vater und Tochter am 9. Juli 1993 bei der Stadt S (Bl. 27, 36 Haftung) ihre bisherigen Gewerbeab- bzw. -anmeldungen, indem nunmehr der Vater zum 31. Dezember 1992 die vollständige Aufgabe des gesamten Betriebes und die Klägerin ab dem 1. Januar 1993 die Neuerrichtung eines Kartonagen-Betriebes erklärte. Die danach vom Vat...