Entscheidungsstichwort (Thema)

Schätzungsbefugnis bei nicht ordnungsgemäßer Buchführung: Aufzeichnungspflichten bei Einnahmenüberschussrechnung – Unabänderbarkeit elektronischer Aufzeichnungen zur Leistungsabrechnung – Verpflichtung zur Verfahrensdokumentation

 

Leitsatz (redaktionell)

  1. Die Erstellung der einer Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG zugrunde liegenden Rechnungen durch eine zur Leistungsabrechnung dienende Software, die die Unabänderbarkeit der Abrechnungen nicht gewährleistet, stellt keinen zu einer Hinzuschätzung berechtigenden formellen Mangel der Buchführung bzw. der Aufzeichnungen dar.
  2. Aufbewahrungspflichtige elektronische Unterlagen, die keine Buchungen oder Aufzeichnungen sind, fallen nicht unter das Unabänderbarkeitsgebot des § 146 Abs. 4 AO (entgegen BMF-Schreiben vom 14.11.2014, BStBl I 2014, 1450, Rz. 59).
  3. Für derartige elektronische Aufzeichnungen besteht auch keine Verpflichtung zur Führung und Vorhaltung einer Verfahrensdokumentation.
 

Normenkette

EStG § 4 Abs. 3; AO § 146 Abs. 1, 4, §§ 147, 158, 162 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1; FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1

 

Streitjahr(e)

2015, 2016, 2017

 

Tatbestand

Die Antragstellerin, die eine Praxis für Allgemeinmedizin betreibt, ermittelt ihren Gewinn nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) durch Einnahmenüberschussrechnung. Eine elektronische Buchführung erfolgte in den Jahren 2015 bis 2017 (Streitjahre) mittels der Software K.. Die Rechnungen erstellte die Antragstellerin mit dem Programm „Q.“ von der J. AG (Softwarehersteller).

Mit Einkommensteuerbescheiden für die Streitjahre vom 08.03.2017, vom 07.03.2018 bzw. vom 04.06.2019 setzte der Antragsgegner (Finanzamt - FA -) die Einkommensteuer für das Jahr 2015 auf 14.952 €, für das Jahr 2016 auf 27.789 € sowie für das Jahr 2017 auf 32.647 € fest. Das FA berücksichtigte für das Jahr 2015 einen Gewinn aus freiberuflicher Tätigkeit i.H.v. 67.752 €, für das Jahr 2016 i.H.v. 100.201 € sowie für das Jahr 2017 i.H.v. 111.026 €.

Das FA führte bei der Antragstellerin für die Streitjahre eine Betriebsprüfung (BP) durch. Der Betriebsprüfer fasste seine Feststellungen im BP-Bericht vom 24.08.2021 - auf dessen Inhalt verwiesen wird - zusammen. In Tz. 2.2 stellte der Betriebsprüfer fest, dass im Jahr 2015 zu Unrecht ein Investitionsabzugsbetrag i.H.v. 11.500 € für die Anschaffung eines PKW (...) als Patiententaxi gebildet worden sei.

In Tz. 2.3 stellte er weiter fest, die private Kfz-Nutzung…mit dem amtlichen Kennzeichen N01 werde im Prüfungszeitraum mittels der 1 %-Methode ermittelt. Die bisherige Berechnung sei anhand der vorliegenden Unterlagen zum Bruttolistenpreis und den Arbeitstagen für den Prüfungszeitraum angepasst worden. Demnach sei für 2015 dem erklärten Gewinn der Antragstellerin ein Nettobetrag i.H.v. 444 €, für 2016 i.H.v. 664 € und für 2017 i.H.v. 0 € hinzuzurechnen. Die damit im Zusammenhang stehenden und ebenfalls hinzuzurechnenden nicht abzugsfähigen Betriebsausgaben betrügen für alle drei Jahre jeweils 236 €.

In Tz. 2.4 des BP-Berichts führte der Betriebsprüfer aus, die Antragstellerin habe zur Abrechnung der von ihr erbrachten Leistungen das Programm „Q.“ verwendet. Dieses sei im Rahmen der ihm vorliegenden Daten hinsichtlich der Grundsätze zur ordnungsgemäßen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form sowie zum Datenzugriff (GoBD) geprüft worden sei.

In Tz. 2.4.1 führte der Prüfer aus, dass es in einigen der zur Verfügung gestellten Dateien ein Feld „RechnungsID“ gebe und die RechnungsIDs nicht fortlaufend, sondern lückenhaft seien. Der Softwarehersteller habe auf Nachfrage mitgeteilt, dass bei jeder Rechnungserstellung durch das Programm eine neue RechnungsID erstellt werde. Lösche der Anwender eine Rechnung und erstelle anschließend mit derselben Rechnungsnummer eine neue Rechnung, werde eine neue RechnungsID vergeben. Bei Erstellung einer Rechnung, werde ein Datensatz in eine Datenbanktabelle geschrieben, die das Programm nutze. Jeder Datensatz erhalte eine von einer Datenbank-Sequenz generierte ID. An sich werde diese ID fortlaufend vergeben, wobei es aufgrund interner Systemoptimierungen auch zu Lücken kommen könne. Eine Beschreibung der Datenbankstruktur oder eine Verfahrensdokumentation habe die Antragstellerin im Rahmen der BP nicht eingereicht, sodass das Vorsystem nicht abschließend und zweifelsfrei geprüft habe werden können. Schließlich hätten auch die im Rahmen der BP vorgenommenen Testrechnungen keinen ausreichenden Aufschluss über die Entstehung der Lücken in den RechnungsIDs zu geben vermocht, denn anders als der Softwarehersteller ausgeführt habe, sei bei der Neuerstellung einer zuvor gelöschten Rechnung bei identischer Rechnungsnummer auch immer dieselbe RechnungsID vergeben worden.

In Tz. 2.4.2 stellte der Prüfer sodann fest, dass Rechnungen bei Veränderung der Rechnungsinhalte überschrieben würden und mangels Protokolldatei weder die gelöschten Informationen noch die vorgenommenen Änderungen nachvollzogen werden k...

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