Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderungsmöglichkeit trotz Bestandskraft des Aufhebungsbescheides bei Prognoseentscheidungen über Kindergeld innerhalb der Verjährungsfrist des § 70 Abs. 4 EStG
Leitsatz (redaktionell)
- § 70 Abs. 4 EStG eröffnet stets eine Berichtigungsmöglichkeit, soweit die abschließende Überprüfung nach Ablauf des Jahres ein Unter- oder Überschreiten des Grenzbetrages abweichend von der Prognoseentscheidung ergibt.
- Derartige Prognoseentscheidungen tragen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht den Charakter der Vorläufigkeit in sich.
- Daher begründet auch die auf Grund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts v. 11.1.2005 2 BvR 167/2002 geänderte Rechtsauffassung zur Einbeziehung der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge ein nachträgliches Bekanntwerden i.S. des § 70 Abs. 4 EStG.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 S. 2, § 70 Abs. 4
Streitjahr(e)
2005
Nachgehend
Tatbestand
Streitig ist, ob dem Kläger Kindergeld für den Zeitraum Januar bis April 2005 gewährt werden kann.
Der Kläger ist Vater der am 13.03.1986 geborenen Tochter Anna. Die Tochter befand sich seit dem 01.09.2004 in einer Ausbildung zur Industriekauffrau. Sie bezog im Jahre 2005 ein Bruttogehalt von 10.219 €. Ausweislich des Einkommensteuerbescheides 2005 der Tochter belaufen sich die Werbungskosten auf insgesamt 1.613 €. Die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge betragen nach der vorliegenden Verdienstbescheinigung insgesamt 2.188 €.
Mit der Erklärung zu den voraussichtlichen Einkünften und Bezügen der Tochter für das Kalenderjahr 2005 vom 11.03.2005 hatte der Kläger einen Bruttoarbeitslohn von 9.457 € erklärt und keine Angaben zu den Werbungskosten gemacht. Der Beklagte errechnete danach im Rahmen einer Prognose eine voraussichtliche Überschreitung der Einkommensgrenze von 7.680 € für das Jahr 2005. Dabei zog er von den Einkünften aus nichtselbstständiger Tätigkeit lediglich den Arbeitnehmerpauschbetrag in Höhe von 920 € ab.
Mit Bescheid vom 22.04.2005 hob der Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind Anna ab dem 01.01.2005 auf. Zur Begründung führte er aus, die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen seien nicht erfüllt, da das Kind Einkünfte und Bezüge von mehr als 7.650 € im Kalenderjahr 2005 habe. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
Mit Schreiben vom 01.06.2005 teilte der Kläger unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 – Az. 2 BvR 167/02 – dem Beklagten mit, dass die Einkünfte seiner Tochter unter Abzug der Sozialversicherungsbeiträge sowie einer Werbungskostenpauschale in Höhe von 920 € deutlich unter der Höchstgrenze von 7.650 € lägen. Er bat um Wiederaufnahme und Nachzahlung des Kindergeldes.
Mit Bescheid vom 08.08.2005 gewährte der Beklagte Kindergeld für den Zeitraum ab 01.05.2005 in Höhe von 154 € monatlich. Für den Zeitraum vom 01.01. bis 30.04.2005 lehnte er hiergegen die Kindergeldzahlung ab. Zur Begründung führte er aus, der Kindergeldgewährung für diesen Zeitraum stehe auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts die Bestandskraft des Bescheides vom 22.04.2005 entgegen.
Dagegen hat der Kläger nach erfolglos gebliebenem Einspruchsverfahren Klage erhoben, mit der er sein Begehren auf Gewährung von Kindergeld für den Zeitraum 01.01. bis 30.04.2005 weiter verfolgt. Ergänzend macht er geltend, die Berufung des Beklagten auf die Bestandskraft des rechtswidrigen Aufhebungsbescheides sei arglistig. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei bereits im Januar 2005 ergangen und dem Beklagten spätestens im Mai 2005 bekannt geworden. Daher hätte er bei der Entscheidung vom 08.08.2005 die geänderte Rechtsprechung berücksichtigen müssen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 08.08.2005 und der Einspruchsentscheidung vom 21.09.2005 zu verpflichten, ihm für seine Tochter Anna für den Zeitraum Januar bis April 2005 Kindergeld in der gesetzlichen Höhe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist weiterhin der Auffassung, dass die begehrte Änderung des Aufhebungsbescheides mangels einer Korrekturform nicht mehr möglich sei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung – FGO -).
Die Klage ist begründet.
Der Bescheid vom 8. August 2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 2 FGO). Der Beklagte ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass eine Änderung des Bescheides vom 22.04.2005 bezüglich der Monate Januar bis April 2005 nicht mehr möglich ist.
Für ein Kind, dass – ...