Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückforderung von Kindergeld: Auszahlung trotz Kenntnis der geänderten Verhältnisse
Leitsatz (redaktionell)
- Auch wenn der Berechtigte die Familienkasse zeitnah und mehrmals über die Änderung der Verhältnisse unterrichtet hat (hier: Umzug des Kindes nach Syrien) und die Familienkasse hierauf aus grober Unachtsamkeit erst 1 ½ Jahre später reagiert hat, lassen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verwirkung den Rückforderungsanspruch wegen des zu Unrecht ausgezahlten Kindergelds nicht entfallen.
- Ein Erlass des Rückforderungsbetrags aus Billigkeitsgründen kommt in Betracht, wenn der Empfänger für den Rückforderungszeitraum Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Anrechnung des Kindergeldes erhalten hat und eine nachträgliche Anpassung dieser Leistungen im Hinblick auf die Rückforderung des Kindergelds von der Sozialbehörde versagt wird.
Normenkette
EStG § 63 Abs. 1 S. 3, § 70 Abs. 2; AO § 37 Abs. 2, § 227; BGB § 818 Abs. 3
Tatbestand
Der Kläger, ein deutscher Staatsbürger syrischer Herkunft, bezog Kindergeld für seine Söhne „A” (geboren 1997), „B” (geboren 2000) und „C” (geboren 2004). Ende Juli 2009 hob die Beklagte -die Familienkasse die Kindergeldgewährung für die Kinder „A” und „B” mit Wirkung ab September 2009 auf (Bescheid vom 31.07.2009). Zur Begründung war angegeben, die Kinder „A” und „B” würden im September 2009 Deutschland verlassen und sich damit nicht mehr im Geltungsbereich des Gesetzes (§ 63 Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes -EStG) aufhalten. Auf der zugehörigen internen „Kindergeldverfügung/Kassenanordnung” (vom 27.07.2009) war vermerkt:
„Kinder verlassen den Haushalt zum 01.09.2009. Kinder gehen in Syrien zur Schule. Bitte mit Kunden in Verbindung setzen bezüglich Anspruch auf Kindergeld. [handschriftlicher Zusatz :] Kunde wünscht tel. Auskunft”
In der Kassenanordnung sind die Daten der drei Kinder erfasst, wobei bei „A” und „B” jeweils vermerkt ist: „Befristungstermin 08.2009 Befristungsgrund W: Wegfall der Voraussetzung” und bei „C”: Befristungstermin 05.2022 Befristungsgrund M: Vollendung 18. Lebensjahr”.
Am 28. August 2009 ging bei der Familienkasse ein Schreiben des Klägers ein mit folgendem Inhalt:
„Hiermit melde ich meine Kinder A”, „B” und „C” bei der Familienkasse ab, wegen Weiterbildung in Syrien (..) ab dem 1.09.2009. ...”
Der Sachbearbeiter verfügte hierauf: „nichts zu veranlassen” und gab das Schreiben zu der Akte.
Im Januar 2011 teilte die Meldebehörde der Familienkasse bei einem Datenabgleich mit, dass „C”, für den weiterhin laufend Kindergeld gewährt wurde, nach Syrien verzogen sei. Die Familienkasse fragte daraufhin bei dem Kläger nach den näheren Umständen des Aufenthalts seines Sohnes „C” in Syrien. Der Kläger erläuterte, dass der Sohn seit Ende 2009 bei den Großeltern in Syrien lebe, und zwar auf unbekannte Dauer. Er habe seinen Wohnsitz im Inland vollständig aufgegeben. Zwischenzeitlich werde er nach Deutschland zurückkehren, aber der Zeitraum bzw. Zeitpunkt sei derzeit nicht bekannt. Auf Nachfrage der Familienkasse teilte das Einwohnermeldeamt mit, dass „C” am 01.09.2009 nach Syrien umgemeldet worden sei.
Nunmehr hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für „C” gemäß § 70 Abs. 2 EStG rückwirkend ab September 2009 auf und forderte für September 2009 bis Dezember 2010 gezahltes Kindergeld in Höhe von 2.864 EUR vom Kläger zurück (Bescheid vom 18.03.2011).
Hiergegen erhob der Kläger Einspruch. Er verwies darauf, dass er seine drei Kinder sowohl bei der Familienkasse als auch beim Einwohnermeldeamt rechtzeitig abgemeldet habe. Die Familienkasse habe daraufhin für die älteren Kinder kein Kindergeld mehr gewährt, dagegen für „C” weiter gezahlt. Das Geld sei in die Ausbildung investiert worden und nicht mehr vorhanden. Der Kläger beziehe Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II und könne den Rückzahlungsbetrag nicht aufbringen. Der Einspruch hatte keinen Erfolg. Die Familienkasse führte aus, der Kindergeldanspruch des Klägers für seinen Sohn „C” sei ab September 2009 entfallen, weil der Sohn infolge des Umzugs nach Syrien weder einen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland oder einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union bzw. des europäischen Wirtschaftsraums habe. Die Kindergeldfestsetzung sei gemäß § 70 Abs. 2 EStG rückwirkend aufzuheben, weil durch den Umzug in den Verhältnissen, die für die Kindergeldgewährung erheblich sind, Änderungen eingetreten seien. Die Aufhebung habe mit Wirkung ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse, also rückwirkend, zu erfolgen; hierbei habe die Familienkasse keinen Ermessenspielraum. Die Erstattungspflicht ergebe sich aus § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung -AO, wonach eine ohne rechtlichen Grund gezahlte Steuervergütung zu erstatten sei. Der Rückforderungsanspruch sei Ausdruck des übergeordneten und allgemeinen Rechtsgrundsatzes, dass derjenige, der vom Staat eine Leistung zu Lasten der Allgemeinheit letztlich ohne Rechtsgrund erh...