Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung von öffentlich-rechtlichen Willenserklärungen nach dem Empfängerhorizont
Leitsatz (redaktionell)
- Für die Auslegung eines Bescheides nach Maßgabe des objektiven Verständnishorizonts des Empfängers ist neben dem Tenor auf den materiellen Regelungsgehalt einschließlich der Begründung des Bescheides abzustellen.
- Wird ein im Jahr 2002 ergangener Bescheid, mit dem die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung vom 01.01.2001 aufgehoben wird, damit begründet, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag im Kalenderjahr 2001 übersteigen, kann der Adressat den Bescheid dahin gehend verstehen, dass die Behörde die Kindergeldfestsetzung ausschließlich für das Jahr 2001 aufheben will.
- Eine Bindungswirkung des Aufhebungsbescheides bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe kann in diesem Fall nicht angenommen werden.
- Aus der Tatsache, dass der Aufhebungsbescheid trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens zur Frage der Berücksichtigung der Arbeitnehmer-Sozialversicherungsbeiträge im Rahmen der Grenzbetragsberechnung nicht mit einem Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO versehen wurde, ergibt sich kein Vertrauenstatbestand, der die Berufung auf die eingetretene Bestandskraft treuwidrig erscheinen ließe.
- Die Änderung der Normauslegung in Bezug auf die Grenzbetragsberechnung durch die Entscheidung des BVerfG führt nicht zur Durchbrechung der Bestandskraft eines Aufhebungsbescheids gemäß § 70 Abs. 4 EStG oder § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 S. 2, § 70 Abs. 4; AO §§ 89, 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; BGB §§ 133, 157
Streitjahr(e)
2001, 2002
Nachgehend
Tatbestand
Streitig ist, ob dem Kläger für seine Tochter Rebecca (geboren am 21.10.1980) für den Zeitraum Januar 2001 bis Juni 2002 Kindergeld gewährt werden kann.
Mit Bescheid vom 24.06.2002 hob der Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes für Rebecca mit Wirkung vom 01.01.2001 gemäß § 70 Abs. 4 Einkommensteuergesetz (EStG) auf. Die Aufhebung begründete der Beklagte damit, dass die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen nicht vorliegen würden, weil Rebecca Einkünfte und Bezüge von mehr als 14.040 DM im Kalenderjahr 2001 erzielt habe. Die laufenden Zahlungen seien ab dem 01.01.2001 eingestellt worden.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger keinen Einspruch ein.
Mit Schreiben vom 26.09.2005 beantragte der Kläger Kindergeld für den Zeitraum vom 01.01.2001 bis 31.12.2002. Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Beschluss vom 11.01.2005 (2 BvR 167/02) entschieden, dass im Rahmen der Grenzbetragsberechnung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG die Einkünfte des Kindes um die Sozialversicherungsbeiträge des Kindes zu mindern seien. Unter Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge und der Werbungskosten von Rebecca stünde ihm ein Kindergeldanspruch zu.
Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 07.10.2005 teilweise ab. Zur Begründung führte er aus, mit Bescheid vom 24.06.2002 sei die Festsetzung des Kindergeldes für Rebecca für die Zeit ab 01.01.2001 aufgehoben worden. Die Bestandskraft dieses Bescheides und damit die Bindungswirkung sei bis einschließlich des Monats seiner Bekanntgabe (Juni 2002) eingetreten. Einer erneuten Entscheidung auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 stehe die Bestandskraft des Bescheides entgegen. Aus verfahrensrechtlichen Gründen sei daher der Antrag für den Zeitraum vom 01.01.2001 bis 30.06.2002 abzulehnen. Das Kindergeld werde somit erst ab dem 01.07.2002 auf monatlich 154 Euro festgesetzt.
Gegen den Bescheid legte der Kläger fristgerecht Einspruch ein.
Den Einspruch richtete er gegen die Ablehnung der Berichtigung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum vom 01.01.2001 bis 30.06.2002. Die Ablehnung für den vorgenannten Zeitraum stelle eine Ungleichbehandlung dar gegenüber denjenigen Kindergeldberechtigten, die auf Grund der damaligen Rechtslage gar keinen Antrag auf Zahlung des Kindergeldes gestellt hätten und nun eine Nachzahlung für den gesamten beantragten Zeitraum erhielten. Außerdem sei die Stichtagssetzung 01.07.2002 nicht nachvollziehbar. Darüber hinaus sei ein Verwaltungsakt, der unter falscher Rechtsanwendung erlassen worden sei, auch für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn durch die falsche Rechtsanwendung Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden seien.
Mit Einspruchsentscheidung vom 29.12.2005 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück.
Der Beklagte wies zur Begründung erneut daraufhin, dass der beantragten Berichtigung die Bestandskraft des Bescheides vom 24.06.2002 entgegen stehe. Dieser Bescheid sei mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen gewesen, in der auf die Möglichkeit des Einspruchs hingewiesen worden sei. Mit Ablauf der Einspruchsfrist sei dieser Bescheid bestandskräftig geworden. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs könne ein neuer Kindergeldanspruch erst zum Fol...