vorläufig nicht rechtskräftig
Revision zugelassen durch das FG
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch eines im Inland wohnhaften Arbeitnehmers – Anspruchskonkurrenz nach Art.68 EGV Nr. 883/2004 – Berechtigung bei Zugehörigkeit der Kinder zum Haushalt der Kindesmutter in Polen – Bedeutung der Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 EGV Nr. 987/2009
Leitsatz (redaktionell)
- Ein in Deutschland wohnhafter Arbeitnehmer mit polnischer Staatsangehörigkeit hat für seine bei der Kindesmutter in Polen lebenden Kinder Anspruch auf Kindergeld, wenn der Kindesmutter in Polen kein Anspruch auf Familienleistungen zusteht und deshalb eine Anspruchskonkurrenz i.S.d. des Art.68 EGV Nr. 883/2004 mit dem deutschen Kindergeldanspruch nicht besteht..
- Dem Anspruch des Vaters steht die Zugehörigkeit der Kinder zum Haushalt der in Polen lebenden Kindesmutter nicht entgegen, da diese selbst die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 62 Abs. 1 EStG nicht erfüllt und daher keine i. S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG anspruchsberechtigte Person sein kann.
- Art. 60 Abs. 1 Satz 2 EGV Nr. 987/2009 bezweckt nicht, einen unstreitig bestehenden Kindergeldanspruch dem Anspruchsinhaber unter Hinweis auf die Zugehörigkeit der Kinder zum Haushalt eines nicht im Beschäftigungsland wohnenden Familienangehörigen zu versagen.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 3, § 64 Abs. 2 S. 1; EGV Nr. 883/2004 Art. 11 Abs. 3 Buchst. a; EGV Nr. 883/2004 Art. 68; EGV Nr. 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2
Streitjahr(e)
2011
Tatbestand
Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Seine Ehefrau – ebenfalls polnische Staatsangehörige – lebt mit den vier gemeinsamen Kindern „U” (geb. am „..”.03.1991), „ „P”, „Q” und „O” (sämtlich minderjährig) in Polen. Der Kläger stand seit dem 25.02.2011 bis zum 19.11.2011 und wieder seit dem 02.01.2012 in einem in Deutschland sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Arbeitgeber ist ein Unternehmen mit Sitz in Polen. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Kinder die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 EStG erfüllen; der Sohn „U” besuchte eine Schule.
Den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Kindergeld für seine vier Kinder (beginnend im Februar 2011) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 31.05.2011 ab, da ihrer Ansicht nach das deutsche Recht nicht zur Anwendung gelange. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 10.01.2012 als unbegründet zurück. Da der Kläger seit dem 25.02.2011 von seinem in Polen ansässigen Arbeitgeber nach Deutschland entsandt worden sei, unterliege er nicht dem deutschen Kindergeldrecht; vielmehr sei nach Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (im Folgenden: EU-VO) das polnische Recht über Familienleistungen anzuwenden.
Mit der Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
In der mündlichen Verhandlung vom 13.03.2013 hat sich erwiesen, dass zwischenzeitlich Kindergeld festgesetzt worden war für die Monate Februar 2011 bis November 2011. Daraufhin haben die Beteiligten insoweit übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt (Az. 15 K 544/12 Kg). Für den nach dem Klagebegehren einzig noch streitigen Monat Dezember 2011 hat der Kläger in jener Verhandlung eine Bescheinigung über Lohnersatzleistungen vorgelegt – allerdings nur Seite 1. Die weitere Seite 2 hat der Kläger mit Schriftsatz vom gleichen Tag übersandt; eine Stellungnahme der Beklagten ist trotz mehrfacher Aufforderung ausgeblieben.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 31.05.2011 und der Einspruchsentscheidung vom 10.01.2012 zu verpflichten, ihm Kindergeld für seine Kinder „U”, „P”, „Q” und „O” für Dezember 2011 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Die Beklagte ist zu der geltend gemachten Kindergeldgewährung verpflichtet; auch für Dezember 2011 steht dem Kläger der Kindergeldanspruch zu (vgl. § 101 Satz 1 FGO).
Der Kläger hat einen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG); die Kinder haben einen Wohnsitz in Polen, also in einem Mitgliedstaat der EU (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Alle Kinder sind unstreitig berücksichtigungsfähig i. S. des § 32 EStG; sie haben noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet bzw. befinden sich in Ausbildung (§ 32 Abs. 3, 4 EStG).
Für den Kläger ist auch ausschließlich deutsches Recht anzuwenden (vgl. Art. 11 Abs. 1, 3 Buchst. a EU-VO Nr. 883/2004), denn er ist (auch) im Dezember 2011 in Deutschland nichtselbständig erwerbstätig gewesen (inländische Betriebsstätte des polnischen Arbeitgebers) und hat hieraus für den streitigen Zeitraum Krankengeld bezogen; letzteres hat er zwischenzeitlich durch Vorlage der vollständigen Bescheinigung der Knappschaft nachgewiesen. Dass der Kläger nicht etwa i. S. von Art. 12 Abs. 1 der EU-VO Nr. 883/2004 entsandt worden war, ist zwischen den Beteiligten se...