rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch eines vorübergehend nach Deutschland entsandten polnischen Arbeitnehmers
Leitsatz (redaktionell)
- Einem vorübergehend nach Deutschland entsandten polnischen Arbeitnehmer, der ausschließlich der Sozialversicherungspflicht in Polen unterliegt, kann im Licht des in Art. 48 AEUV garantierten Rechtes auf Freizügigkeit der Anspruch auf Kindergeld für seine in Polen lebenden Kinder nicht aufgrund des Ausschließlichkeitsgrundsatzes der Art. 11 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 versagt werden.
- Auch im Fall der vorübergehenden Entsendung von Arbeitnehmern ist es einem Mitgliedstaat, der nach den europarechtlichen Koordinationsvorschriften nicht als zuständiger Staat bestimmt ist, nicht verwehrt, nach seinem nationalen Recht einem Wanderarbeitnehmer, der in seinem Hoheitsgebiet vorübergehend eine Arbeit ausführt, Familienleistungen zu gewähren.
- Eine entgegenstehende Regelung existiert im deutschen Kindergeldrecht bislang nicht.
- Die Familienleistungen des nach den europarechtlichen Koordinationsvorschriften unzuständigen Mitgliedstaats Deutschland dürfen aber um die in dem vorrangig zuständigen Mitgliedstaat Polen ausgezahlten Familienleistungen gekürzt werden.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1; VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 1 Buchst. z; VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 2 Abs. 1, Art. 11 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 68 Abs. 2; AEUV Art. 48
Streitjahr(e)
2010, 2011
Tatbestand
Der Kläger, ein polnischer Staatsbürger, beantragte unter Angabe seines polnischen Familienwohnsitzes im Herbst 2012 bei der Familienkasse „A” die Gewährung von Kindergeld für seine beiden Kinder „B” (geboren im Juni 1992) und „C” (geboren 1997). Er erläuterte, sein Antrag beziehe sich auf den Zeitraum Juli 2010 bis September 2011, wo er als entsandter Arbeitnehmer für eine polnische Baufirma („D”) in Deutschland tätig gewesen sei; in Deutschland sei er nicht sozialversichert gewesen, habe allerdings im Streitzeitraum in „A” gearbeitet und einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Die Familienkasse lehnte den Antrag ab. Zur Begründung gab sie an, der Kläger sei in das soziale Sicherungssystem in Polen integriert und unterliege den polnischen Rechtsvorschriften, gemäß Art. 11 ff. der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit - VO (EG) Nr. 883/2004 - (ABl. EU 2004 L 200, S. 1). Eine Gewährung deutschen Kindergelds sei ausgeschlossen (Bescheid vom 28.09.2012).
Hiergegen erhob der Kläger Einspruch. Er trug vor, die bisherige Regelung, wonach ein vorübergehend nach Deutschland entsandter Arbeitnehmer kein deutsches Kindergeld beanspruchen könne, sei entfallen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe in den Rechtssachen C-611/10 und C-612/10 entscheiden, dass der Gewährung deutschen Kindergelds für entsandte Arbeitnehmer nichts entgegenstehe. Der Kläger erklärte, er habe in Polen keinen Anspruch auf vergleichbare Familienleistungen. Die Familienkasse wies den Einspruch als unbegründet zurück. Sie führte aus, der Kläger habe als vorübergehend entsandter Arbeitnehmer durchgehend den Regelungen des Entsendestaates, also dem polnischen Sozialsystem, unterlegen, so dass für ihn gemäß Art. 12 VO (EG) Nr. 883/2004 ausschließlich die polnischen Rechtsvorschriften anzuwenden seien (Einspruchsentscheidung vom 12.11.2012).
Hiergegen richtet sich die Klage. Der Kläger ergänzt, er sei in den Jahren 2010 und 2011 wegen seines gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen. Der Kläger hat Lohnsteuerbescheinigungen für 2010 und 2011 sowie einen Einkommensteuerbescheid (1. Seite) des Finanzamts „E” für 2011 (Einkommensteuerfestsetzung auf 0 €) vorgelegt. Er ist der Auffassung, nach der Rechtsprechung des EuGH stehe ihm für den Entsendezeitraum deutsches Kindergeld in voller Höhe zu.
Der Kläger ist, ordnungsgemäß geladen, der mündlichen Verhandlung entschuldigt ferngeblieben. Schriftsätzlich beantragt er sinngemäß,
die Familienkasse unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 28.09.2012 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.11.2012 zu verpflichten, ihm für den Zeitraum Juli 2010 bis September 2011 für seine beiden Kinder deutsches Kindergeld in voller gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die beklagte Familienkasse ist im Verlauf des Klageverfahrens durch Organisationsakt für Kindergeldverfahren mit Bezug zu Polen zuständig geworden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die vom Gericht beigezogene Kindergeldakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist teilweise begründet.
1. Die grundsätzliche Versagung der Kindergeldfestsetzung gegenüber dem Kläger im Zeitraum seiner vorübergehenden Entsendung (Juli 2010 bis September 2011) ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 101 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Durch Art. 11 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1...