Entscheidungsstichwort (Thema)
Einfuhrumsatzsteuer: Entstehung von und gegebenenfalls Schuldnerschaft bei Pflichtverletzung durch einen Beförderer gemäß Art. 204 ZK nach der Sechsten Richtlinie
Leitsatz (amtlich)
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird folgende Frage zur Auslegung des Unionsrechts im Wege der Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Frage: Steht es im Widerspruch zu den Vorschriften der Richtlinie 77/388/EWG, Einfuhrumsatzsteuer für Gegenstände zu erheben, die als Nichtgemeinschaftsware wiederausgeführt worden sind, für die jedoch wegen einer Pflichtverletzung nach Art. 204 ZK - hier: nicht rechtzeitige Erfüllung der Pflicht, die Entnahme der Ware aus einem Zolllager spätestens zum Zeitpunkt ihrer Entnahme in den dafür vorgesehenen Bestandsaufzeichnungen aufzuschreiben - eine Zollschuld entstanden ist?
Falls die Frage zu 1 verneint wird:
2. Frage: Gebieten es die Vorschriften der Richtlinie 77/388/EWG, in solchen Fällen Einfuhrumsatzsteuer für die Gegenstände zu erheben oder besteht insoweit ein Spielraum für die Mitgliedstaaten?
und
3. Frage: Ist ein Zolllagerhalter, der einen Gegenstand aus einem Drittstaat aufgrund eines Dienstleistungsverhältnisses in sein Zolllager einlagert, ohne über diesen verfügen zu können, Schuldner der Einfuhrmehrwertsteuer, die infolge seiner Pflichtverletzung gemäß Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 RL 77/388/EWG i. V. m. Art. 204 Abs. 1 ZK entstanden ist, auch wenn der Gegenstand nicht im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst a) RL 77/388/EWG für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet wird?
Normenkette
ZK Art. 203-204, 236; ZKDV Art. 859; EWGRL 388/77 Art. 2, 4 Abs. 1-4, Art. 7 Abs. 2-3, Art. 10 Abs. 3, Art. 17 Abs. 2, Art. 18; UStG § 1 Abs. 1 Nr. 4, § 5 Abs. 2-3, § 13 Abs. 2, § 15 Abs. 1 Nr. 2, § 21 Abs. 1-2; EUStBV § 1 Abs. 1 Nrn. 1-2
Nachgehend
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten in diesem Verfahren im Wesentlichen noch darüber, ob für wiederausgeführte Drittlandsgegenstände, die die Klägerin in ihr Zolllager aufgenommen, bezüglich derer sie indes zollrechtliche Bestandsaufzeichnungen nicht korrekt geführt hatte, Einfuhrumsatzsteuer (nach der im folgenden verwendeten Terminologie des Unionsrechts: Einfuhrmehrwertsteuer) festgesetzt werden darf.
1. Die Klägerin nahm in ihrem Zolllager im Transit befindliche Ware ihrer Kunden auf und stellte sie zu Sendungen in verschiedene osteuropäische Länder zusammen. Die Lagerdauer betrug durchschnittlich mehr als sechs Wochen. Die jeweiligen Sendungen wurden von in den Bestimmungsländern ansässigen Fuhrunternehmen ab Lager der Klägerin übernommen.
Eine Zollprüfung für den Zeitraum 01.07. - 31.12.2006 ergab unter anderem, dass Entnahmen aus dem Zolllager in den zollrechtlich vorgeschriebenen Bestandsaufzeichnungen nicht zeitnah, sondern entweder erst mit einer zeitlichen Verzögerung - bis 126 Tage nach der Entnahme - oder gar nicht erfasst worden waren. Ein Teil der in den Bestandsaufzeichnungen nicht erfassten Entnahmen konnte allerdings im Lagerwirtschaftssystem der Klägerin nachvollzogen werden. Für einen anderen Teil der Waren konnte der Nachweis erbracht werden, dass sie nach der Entnahme eine neue zollrechtliche Bestimmung erhalten hatten, wobei in Bezug auf einen Teil dieser Waren für die Prüfung unklar blieb, wo sie zwischen Entnahme und Erhalt der neuen zollrechtlichen Bestimmung verblieben waren. Die Prüfung gliederte die beanstandeten Vorfälle in mehrere Gruppen.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind die Fälle, in denen bei der Entnahme der Waren aus dem Zolllager Zollanmeldungen für deren Wiederausfuhr abgegeben wurden, die Entnahme jedoch erst mit einer zeitlichen Verzögerung von mehreren Tagen in den Bestandsaufzeichnungen angeschrieben wurde.
2. Mit dem streitgegenständlichen Einfuhrabgabenbescheid vom 01.07. 2008 setzte der Beklagte insoweit Zoll-EU und Einfuhrmehrwertsteuer (EUSt) fest.
Nach Erlass eines Teils der Abgaben wies der Beklagte den Einspruch der Klägerin mit Einspruchsentscheidung vom 08.12.2009 im Übrigen als unbegründet zurück.
3. Die Klägerin erhob gegen die Festsetzung der Einfuhrabgaben fristgerecht Klage beim Finanzgericht Hamburg.
Mit Beschluss vom 25.11.2010 (4 K 285/09) hat der Senat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist Art. 204 Abs. 1 Buchst. a) der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ZK) dahin auszulegen, dass bei Nichtgemeinschaftsware, die sich im Zolllagerverfahren befunden hat und die mit Beendigung des Zolllagerverfahrens eine neue zollrechtliche Bestimmung erhalten hat, die Verletzung der Pflicht, die Entnahme der Ware aus dem Zolllager in dem dafür vorgesehen EDV-Programm bereits bei Beendigung des Zolllagerverfahrens - und nicht erst wesentlich später - anzuschreiben, zur Entstehung einer Zollschuld für die Ware führt?