Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschäftsführerhaftung für Vorsteuer aus Scheinsitz-Rechnungen
Leitsatz (amtlich)
- Der (ggf. faktische) Geschäftsführer kann sich gegenüber seiner Haftungsinanspruchnahme durch das Finanzamt wegen zu Unrecht gezogener Vorsteuern aus Einkaufsrechnungen mit Scheinsitzangaben (z. B. Büroservice-Adressen) nicht auf seine Gutgläubigkeit berufen, wenn er nicht seiner Obliegenheit nachgekommen ist, sich über die Richtigkeit der Rechnungsangaben zu vergewissern.
- Schon deswegen kann unter Ermessensgesichtspunkten kein Vertrauensschutz berücksichtigt werden, der sonst bei der Steuerfestsetzung allenfalls im gesonderten Billigkeitsverfahren geprüft werden könnte.
- Bei der Haftungskausalität stellt sich die Frage einer anteiligen Tilgungsverpflichtung nicht, soweit das FA keine Haftung für nicht gezahlte Steuern, sondern für zu Unrecht ausgezahlte Steuervergütungen bzw. Vorsteuern beansprucht.
- Innergemeinschaftliche Lieferungen sind nicht steuerbefreit bei kollusivem Zusammenwirken mit dem tatsächlichem Abnehmer, um diesen durch Vortäuschung eines Zwischenhändlers zu verdecken (Anschluss an BGH in EuGH-Vorlage C-285/09).
Normenkette
AO §§ 34-35, 69, 71, 163, 191; UStG §§ 6a, 14-15
Tatbestand
A.
Die Beteiligten streiten um die Aussetzung der Vollziehung eines Haftungsbescheides, durch den der Antragsgegner (das Finanzamt --FA--) den Antragsteller als faktischen Geschäftsführer einer GmbH für die Umsatzsteuerschulden der Gesellschaft aus 2002 in Haftung genommen hat.
I. Die GmbH
Die GmbH betrieb ein Handelsgeschäft, das im Wesentlichen den An- und Verkauf von Kraftfahrzeugen der oberen Preisklasse im In- und Ausland zum Gegenstand hatte. Hierbei handelte es sich zum Großteil um neue Kraftfahrzeuge der Marken BMW, Mercedes, Porsche und Jeep. Die GmbH war verstärkt im Bereich des sogenannten Graumarkthandels tätig. Fahrzeuge werden hierbei unter Umgehung der exklusiven Vertragshändlerbeziehungen großer Fahrzeughersteller gehandelt. Auffällig gewordene Wiederverkäufer werden bei den Herstellern in firmeninternen Listen (sog. Graumarkthändlerlisten) geführt, anhand derer Kaufinteressenten von Neuwagen überprüft werden.
Gegründet wurde die Gesellschaft im Jahre 2000 (Finanzgerichtsakte --FG-A-- Vorblatt). Ihren Geschäftssitz hatte sie in der J-Straße ..., die Büroräume in der K-Straße ... Hamburg. Weitere Betriebsstätten wurden in der M-Straße ... in B und der S-Straße ... in H angemeldet (Strafakte 5000 Js 242/03 Bl. 661 ff.; Handelsregisterakte --Reg-A-- 1504/00 Bl. 19).
Die eingetragene Geschäftsführerin der GmbH war eine Freundin der Familie des Antragstellers.
a) Im Gründungsjahr 2000 war sie bei der GmbH tätig. Danach bewarb sie sich bei einem Unternehmen in R, bei dem sie anschließend in Vollzeit gearbeitet hat (Strafakte 5000 Js 242/03 Bl. 147).
b) Aus den Unterlagen der GmbH ist nicht ersichtlich, dass die eingetragene Geschäftsführerin von der Gesellschaft Gehalt erhalten hat. Zu diesem Ergebnis ist auch der Betriebsprüfer im Rahmen einer bei der GmbH durchgeführten Betriebsprüfung gekommen (IV; Strafakte 5000 JS 242/03 B. 114).
c) Im Rahmen einer Durchsuchungsmaßnahme der Steuerfahndung (Steufa) am 2. Juli 2003 erklärte die eingetragene Geschäftsführerin, dass sie mit der GmbH nichts weiter zu tun habe, außer dass sie eingetragene Geschäftsführerin sei. Aus Freundschaft zu der Familie des Antragstellers habe sie sich dazu bereit erklärt, als eingetragene Geschäftsführerin zu fungieren. Sie selbst habe keine Geschäfte geführt; das habe alles der Antragsteller gemacht. Einsichten in die Bücher der Gesellschaft habe sie nie genommen (Strafakte 5000 Js 242/03 Bl. 146).
d) Außer bei der GmbH ist sie noch bei der Gesellschaft H als Geschäftsführerin eingetragen gewesen. Dort löste sie im Jahr 2002 den Antragsteller, der 100 Prozent der Anteile an der H hielt und als Geschäftsführer eingetragen war, als eingetragene Geschäftsführerin ab. Im Zusammenhang mit der Gesellschaft H wurde gegen sie und den Antragsteller Anfang 2003 Strafanzeige wegen Insolvenzverschleppung gestellt. Im Rahmen der Ermittlungen wurde durch das Landeskriminalamt Hamburg der Verdacht geäußert, dass die Geschäftsführerin selbst nur Strohfrau und der Antragsteller faktischer Geschäftsführer gewesen sei. Das Verfahren gegen sie wurde wegen geringer Schuld eingestellt. Das Verfahren gegen den Antragsteller wurde nach Erlass eines Strafbefehls und dagegen eingelegtem Einspruch gegen Auflage einer Bußgeldzahlung eingestellt (Strafakte 5600 Js 4/02 Bl. 63, 104, 111, 130, Sonderband Bl. 2). Die Gesellschaft wurde inzwischen aufgelöst und gelöscht.
Der Antragsteller hat bei der GmbH umfassende Aufgaben wahrgenommen.
a) Bei dem Geschäftssitz der GmbH in der J-Straße ... handelte es sich um die damalige Wohnanschrift des Antragstellers (FG-A 71/05 Bd. I Bl. 57, 65). Dorthin waren als Geschäftspost vor allem die beschlagnahmten Bank-Kontoauszüge adressiert. Im Haus befanden sich zahlreiche Akten (FG-A Bl. 92) und ein Tresor zur Bargeldaufbewahr...