Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgabenordnung: Grobes Verschulden i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO bei im Rahmen einer Selbstanzeige zu hoch geschätzten Einkünften
Leitsatz (amtlich)
Ein Steuerpflichtiger, der steuerpflichtige Einkünfte über Jahre nicht nur nicht erklärt, sondern bewusst nicht einmal deren Höhe in Erfahrung bringt und auf Nachweise verzichtet, um das Entdeckungsrisiko zu verringern, nimmt dabei notwendigerweise in Kauf, dass er, wenn sich dieses Risiko plötzlich erhöht, zur Erlangung von Straffreiheit zu einer umgehenden Selbstanzeige in Unkenntnis der tatsächlichen Höhe der hinterzogenen Einkünfte gezwungen ist. Tritt diese Folge dann tatsächlich ein und schätzt der Steuerpflichtige die hinterzogenen Einkünfte bei der Nacherklärung zu hoch, um seine vollständige Straffreiheit sicherzustellen, trifft ihn ein die Änderung des aufgrund der Selbstanzeige ergangenen Bescheides verhinderndes grobes Verschulden i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO.
Normenkette
AO § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 1
Tatbestand
A.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Voraussetzungen für die Änderung von Einkommensteuerbescheiden zugunsten der Kläger nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO) vorliegen.
I.
1. Die Kläger sind Eheleute und erzielten in den Streitjahren 2000 bis 2006 Einkünfte aus Kapitalvermögen aus einem Depot bei der A-Bank in der Schweiz. Diese Einkünfte gaben sie in den für die Streitjahre abgegebenen Einkommensteuererklärungen nicht an. Der Beklagte erließ die Einkommensteuerbescheide zunächst jeweils erklärungsgemäß. Lediglich der Bescheid für 2004 erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.
2. Bei den Klägern wurde im Januar 2010 bei ihrem Grenzübertritt von der Schweiz nach Deutschland durch eine Grenzkontrolle Bargeld aufgefunden. Die Kläger erstatteten daraufhin Selbstanzeige, indem sie gegenüber dem Beklagten mit Schreiben vom 22.01.2010 die Schweizer Einkünfte sowie weitere, hier nicht streitige Einkünfte aus einem Privatdarlehen nacherklärten. In dem Schreiben wiesen sie darauf hin, dass ihnen keine Erträgnisaufstellungen der A-Bank vorlägen und die Ausfertigung dieser Unterlagen nach Auskunft der Bank systembedingt mehrere Monate dauern werde. Sie, die Kläger, hätten die Kapitalerträge aus vorliegenden Saldenmitteilungen unter Ansatz einer geschätzten Rendite von 6 % hochgerechnet mit folgendem Ergebnis:
2000: |
€ 18.761,10 |
2001: |
€ 15.133,68 |
2002: |
€ 10.676,22 |
2003: |
€ 11.894,88 |
2004: |
€ 11.310,78 |
2005: |
€ 11.742,36 |
2006: |
€ 11.144,52 |
II.
1. Der Beklagte erließ aufgrund der am 10.02.2010 durchgeführten Veranlagungen am 19.02.2010 geänderte Einkommensteuerbescheide für 2001 bis 2006, in denen er die nacherklärten Einkünfte in der erklärten Höhe berücksichtigte. Der Bescheid für 2006 wurde am 29.03.2010 aus hier nicht streitigen Gründen geändert. Aufgrund der am 18.03.2010 durchgeführten Veranlagung erließ der Beklagte am 01.04.2010 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für 2000, in dem er ebenfalls die nacherklärten Einkünfte berücksichtigte.
2. Mit Schreiben vom 17.05.2010 beantragten die Kläger die Änderung der Bescheide entsprechend den gleichzeitig eingereichten, auf den 09.02.2010 datierten Erträgnisaufstellungen der A-Bank. Nach diesen Aufstellungen beliefen sich die Einkünfte aus dem Schweizer Depot auf:
2000: |
€ 208,61 |
2001: |
€ 3.315,45 |
2002: |
€ 3.508,91 |
2003: |
€ 2.970,80 |
2004: |
€ 1.719,38 |
2005: |
€ 126,35 |
2006: |
./. € 551,01 |
Die Differenz zu den zunächst erklärten Einkünften belief sich auf insgesamt Euro 87.901,07.
3. Der Beklagte lehnte die Änderung der Bescheide mit Bescheid vom 23.07.2010 ab. Er wies darauf hin, dass die Bescheide für 2000 bis 2003, 2005 und 2006 nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen seien und der Vorbehalt der Nachprüfung bzgl. des Bescheides für 2004 mit Ablauf der Festsetzungsfrist am 31.12.2009 geendet habe. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO komme wegen des groben Verschuldens der Kläger nicht in Betracht.
III.
1. Gegen diesen Bescheid legten die Kläger mit Schreiben vom 28.07.2010 Einspruch ein. Ein grobes Verschulden sei ihnen nicht zur Last zu legen, da die Selbstanzeige wegen der drohenden Tatentdeckung geboten und eine Schätzung der Einkünfte erforderlich gewesen sei.
2. Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 06.06.2012 als unbegründet zurück. Die Kläger treffe ein grobes Verschulden bzgl. des nachträglichen Bekanntwerdens der tatsächlichen Höhe der nacherklärten Einkünfte, weil sie sich die notwendigen Unterlagen nicht rechtzeitig besorgt hätten, obwohl ihnen bewusst gewesen sei, dass die Einkünfte zu versteuern seien. Durch die zu hohe Angabe der Einkünfte in der Nacherklärung, mit der die Kläger ihre vollständige Straffreiheit hätten sicherstellen wollen, hätten sie bewusst in Kauf genommen, dass die Einkünfte in den Änderungsbescheiden zu hoch angesetzt würden, und dennoch keinen Einspruch dagegen eingelegt. Eine Änderung nach § 164 Abs. 2 Satz 1 oder § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO komme ebenso wenig in Betracht.
IV.
Die Klä...