Entscheidungsstichwort (Thema)
Schätzung bei fehlenden Organsiationsunterlagen eines Mehrfilialbetriebs mit sog."proprietärem" Kassensystem
Leitsatz (redaktionell)
1) Im Rahmen einer formell ordnungsgemäßen Buchführung ist der Stpfl. verpflichtet, die Protokollierung sämtlicher Einstellungen und Konfigurationen nebst späterer Änderungen (z.B. Bediener, Zugriffsrechte, Warengruppen mit Preisen, Druck- und Exporteinstellungen) einer T-Kasse vorzulegen; der Hinweis es handele sich um ein „proprietäres System” und Programmierungen könnten nicht vorgelegt werden, steht dem nicht entgegen.
2) Ein Verstoß kann bei einem bargeldgeprägten Unternehmen eine Schätzung dem Grunde nach eröffnen.
Normenkette
AO §§ 162, 158; FGO § 69
Tatbestand
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes den ausdrücklichen Ausschluss einer Sicherheitsleistung für geänderte Festsetzungen von Gewerbesteuermessbeträgen 2011 bis 2013 gem. § 69 Abs. 2 Satz 6 Halbsatz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bei einer zwischen den Beteiligten streitigen Hinzuschätzung im Anschluss an eine steuerliche Betriebsprüfung.
Die Antragstellerin ist eine GmbH & Co. KG, deren Gegenstand der Betrieb einer Bäckerei nach besonderem französischen Premium-Konzept (Boulangerie, Patisserie, Viennoieserie) mit mehreren Filialen in L und C ist. Ihr alleiniger Kommanditist sowie Gesellschafter und Geschäftsführer der Komplementärin (F-GmbH) ist Herr P. In den Streitjahren 2011 bis 2013 bestanden ganzjährig Filialen in der O Straße in L (vor 2011 gegründet) sowie seit Mai 2011 am Nplatz in L, seit November 2011 in der Bstraße in C (A), seit November 2012 in der H-Str. in C sowie seit März 2013 in der E Straße in L. Ihren Gewinn ermittelte die Antragstellerin durch Betriebsvermögensvergleich gem. § 5 Abs. 1, § 4 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG).
Für die Streitjahre 2011 bis 2013 wurde die Antragstellerin zunächst antragsgemäß veranlagt. In den Jahren 2016 und 2017 fand bei ihr eine steuerliche Betriebsprüfung (Bp) für die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer der Jahre 2011 bis 2013 statt, deren Ergebnisse im Bp-Bericht vom 13. April 2017 aufgeführt sind. Neben im hiesigen Verfahren unstreitigen Feststellungen der Bp stellte diese in Tz. 2.2.7 „Kassenführung”) nach Darlegung der aus Verwaltungssicht geltenden Ordnungsgrundsätze dar, dass in der Filiale O Straße in L vom 1. Januar bis 22. Mai 2011 ein Kassensystem von T und seit dem 23. Mai 2011 in allen Filialen ein Kassensystem von W verwendet worden sei. Daten von T hätten nicht in das J-Programm eingelesen werden können, ein GDPdU-Export läge nicht vor. Zur W-Kasse sei neben einem Servicehandbuch (Stand 14.06.2016) ein Datenexport Fiskaljournal Deutschland (Stand 02/2015) und Allgemein (Stand 01/2014) eingereicht worden, am 15. Dezember 2016 aber ein neuer Datenexport mit auffällig abweichenden Daten übersandt worden. Die im internen Betriebsvergleich ermittelten Warenaufschlagsätze lägen mit 169,36 % (2011), 271,28 % (2012) und 252,89 % (2013) in 2011 unter dem mittleren Aufschlagsatz für hier als Vergleichsmaßstab dienende Cafés (Aufschlagsätze min. 186 % – Mittel 257 % – max.400 %). Ergebnisse eines Zeitreihenvergleichs seien bei aufgefundenen extremen Schwankungen auffällig. Eine vereinfachte Kaffeekalkulation führe auch bei Ansatz der Werte der Antragstellerin zu für Café-Betriebe ungewöhnlich hohen Werten von 9,5g Kaffee pro Tasse und damit zu erheblichen Differenzen zwischen Einkauf und Verkauf, die nicht schlüssig seien. Eine aussagekräftige, verständliche und aktuelle Verfahrensdokumentation nicht nur für die Erstinstallation der Kassensysteme, sondern auch für alle vorgenommenen späteren Änderungen, sei nicht vorgelegt worden. An den Datenexporten sei nicht erkennbar, ob die Beschreibungen bereits für die Daten der Jahre 2011 bis 2013 gelten, eine (historisierte) Verfahrensdokumentation liege nicht vor. Außerdem seien nicht alle beschriebenen Dateien (aufgeführt in einer Anlage 1 zum Bp-Bericht) vorgelegt worden. In den vorgelegten Dateien seien zudem in den Anlagen zum Bp-Bericht aufgeführte Lücken im Bereich der Transaktionen (2011: 725 Lücken; 2012: 2554 Lücken; 2013: 2350 Lücken) festgestellt worden, die nicht erklärt worden seien. Diverse Artikel seien ohne einen Verkaufspreis gebucht worden bzw. es sei keine Mengenangabe enthalten, die Antragstellerin habe dies nicht hinreichend erläutert. Weitere Auffälligkeiten gebe es beim Abgleich der Tagesabschlüsse mit der Finanzbuchhaltung. Viele Prüfungen seien wegen nicht vorhandener Daten oder Abweichungen nicht möglich.
Im Ergebnis gelangte die Bp zur Auffassung, dass die Buchführung wegen erheblicher Kassenmängel insgesamt zu verwerfen und nicht nach § 158 der Abgabenordnung (AO) zugrunde zu legen sei. Zur Abbildung der Vielzahl von Mängeln sei ein (griffweiser) Unsicherheitszuschlag von 10 % der erklärten Netto-Bar-Betriebseinnahmen vorzunehmen, was zu folgenden Gewinnhi...