Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldfestsetzung; Bestandskraft; Korrektur
Leitsatz (redaktionell)
Für die Berücksichtigung eines Kindes i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG kommt es nicht auf die voraussichtliche, sondern auf die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes an. Dies gebietet eine Auslegung des Tatbestandsmerkmals "nachträglich bekannt" in § 70 Abs. 4 EStG dahin, dass die tatsächliche Höhe der Einkünfte gegenüber der Prognoseentscheidung immer "nachträglich bekannt" wird.
Normenkette
EStG § 70 Abs. 4, § 32 Abs. 4 S. 2
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Bestandskraft einer Erstablehnung die Festsetzung von Kindergeld für die Monate Januar bis Juni 2001 hindert.
Die Beklagte hatte dem Kläger mit interner Verfügung vom 20. September 2000 das Kindergeld für die Monate ab Juli bis Dezember 2000 bewilligt, da der Jahresgrenzbetrag für das Jahr 2001 nach Ansicht der Beklagten überschritten war (Kindergeld-Akte, Bl 21, 23). Im Februar 2001 übersandte der Kläger der Beklagten eine Bescheinigung über die Fortdauer der Berufsausbildung (Kindergeld-Akte, Bl. 24). Mit Schreiben vom 7. Juni 2001 wandte sich der Kläger erneut an die Beklagte und erklärte unter Hinweis auf die im Februar 2001 übersandte Ausbildungsbescheinigung, insoweit noch keinen Bescheid erhalten zu haben. Die Beklagte wertete diese Eingabe als Antrag auf Kindergeld für das Jahr 2001 und lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 20. Juni 2001 wegen Überschreitung des Jahresgrenzbetrags von 14.040 DM ab. Die Ablehnung wurde nicht angefochten.
Mit einem am 1. August 2005 bei der Beklagten eingegangenen Antrag beantragte der Kläger unter Hinweis auf das im Mai 2005 veröffentlichte Urteil des BVerfG vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 erneut Kindergeld für das Jahr 2001, weil der Jahresgrenzbetrag unter Berücksichtigung der Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung nicht überschritten sei.
Mit Bescheid vom 5. September 2005 wurde das Kindergeld für D für die Monate Juli 2001 bis September 2001 bewilligt, da der Jahresgrenzbetrag unter Berücksichtigung der Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung nicht überschritten wurde. Für die Monate Januar bis einschließlich Juni 2001 wurde die Kindergeldfestsetzung in diesem Bescheid allerdings unter Hinweis auf die bestandskräftige Erstablehnung vom 20. Juni 2001 erneut abgelehnt (Kindergeld-Akte, Bl 74).
Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Zur Begründung führte die Beklagte in der Einspruchsentscheidung vom 2. November 2005 unter Hinweis auf die BFH-Urteile vom 25. Juli 2001 VI R 78/98 (BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88) und VI R 164/98 und die bestandskräftige Erstablehnung vom 20. Juni 2001 aus: Der bestandskräftige Ablehnungsbescheid entfalte Bindungswirkung bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe. Auch eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 bzw. § 70 Abs. 4 EStG scheide aus, weil es sich bei der aufgrund der Entscheidung des BVerfG geänderten Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Sozialversicherungsabgaben nicht um einen nachträglich bekannt gewordenen Sachverhalt handle.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 5. September 2005 und der Einspruchsentscheidung vom 2. November 2005 zu verpflichten, ihm das Kindergeld für die Monate Januar bis Juni 2001 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des BFH in der Sache III R 13/06 anzuordnen, hilfsweise die Klage abzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
1. Eine Verfahrensaussetzung bis zum Abschluss des beim BFH anhängigen Verfahrens III R 13/06 kommt nicht in Betracht.
a) Nach § 74 FGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.
b) Auch im Falle Vorgreiflichkeit der „anderen” Entscheidung bleibt die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens eine Ermessensentscheidung. Bei der Ausübung seines Ermessens hat das FG prozessökonomische Gesichtspunkte einerseits und die Interessen der Beteiligten andererseits gegeneinander abzuwägen (BFH-Beschlüsse vom 28. Februar 2001 I R 41/99, DB 2001,1074, vom 18. September 2002 XI B 126/01, BFH/NV 2003, 189, vom 4. April 2003 V B 199/02, BFH/NV 2003, 1081; BFH-Urteil vom 7. Juli 1998 VIII R 84/96 BFH/NV, 1999, 318).
c) So ist das FG nicht verpflichtet, das Verfahren nach § 74 FGO auszusetzen, wenn ein Musterverfahren nicht beim BVerfG, sondern beim BFH anhängig ist (BFH-Beschluss vom 18. September 2002 XI B 126/01, BFH/NV 2003, 189). Dies gilt insbesondere dann, wenn das FG keine Zweifel am Ausgang des Verfahrens beim BFH hat, etwa weil ähnliche Rechtsfragen bereits entschieden worden sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom 2. September 2005 XI B 224/04, BFH/NV 2006,...