Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Zwangsruhe wegen Verfahren vor dem EGMR
Leitsatz (redaktionell)
Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) werden von der Ruhensanordnung nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO nicht erfasst. § 363 Abs. 2 Satz 2 AO betrifft insoweit nur die Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit Sitz in Luxemburg.
Normenkette
AO § 363 Abs. 2 S. 2
Nachgehend
Tatbestand
Der Kläger erhob gegen den Einkommensteuerbescheid 2007 vom 27.04.2011 Einspruch, unter anderem mit dem Ziel, den Bescheid hinsichtlich der Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit wegen Nichtberücksichtigung einer steuerfreien Kostenpauschale, wie sie den Abgeordneten gewährt werde, bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in den Verfahren 7258/11 und 7227/11 vorläufig zu erlassen. Alternativ sollte der Einspruch bis zur Entscheidung des EGMR zum Ruhen gebracht werden.
Der Beklagte lehnte eine Änderung des Bescheides insoweit, ebenso wie ein Ruhen des Verfahrens ab. Es seien weder die Voraussetzungen des § 363 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) noch des § 363 Abs. 2 Satz 1 AO erfüllt. Eine Zwangsruhe komme nicht in Betracht, da der EGMR nicht zu den in § 363 Abs. 2 Satz 2 AO genannten Gerichten zähle. § 363 Abs. 2 Satz 1 AO greife nicht, da kein wichtiger Grund für ein Ruhen gegeben sei. Die Rechtslage sei aus Sicht der Finanzverwaltung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) eindeutig geklärt. Am 25.10.2011 erließ der Beklagte unter Bezugnahme auf den bisherigen Schriftverkehr mit dem Kläger eine den Einspruch zurückweisende Entscheidung.
Dagegen erhob der Kläger Klage, zunächst verbunden mit dem Antrag, den Einkommensteuerbescheid 2007 vom 27.04.2011 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung dahingehend zu ändern, dass der Bescheid wegen der Nichtberücksichtigung pauschaler Werbungskosten in Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung nach § 12 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig erlassen werde.
Inzwischen begehrt der Kläger die Aufhebung der Einspruchsentscheidung, damit der Beklagte erneut über das Ruhen des Einspruchsverfahrens entscheiden könne. –
Der Beklagte habe bei Ablehnung der Zwangsruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO ermessenswidrig gehandelt. Er habe trotz des nicht sauber formulierten Gesetzestextes keine Auslegung dahingehend vorgenommen, dass unter den Begriff „Europäischer Gerichtshof” im Sinne des Gesetzes auch der EGMR zu fassen sei.
Auch bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 363 Abs. 2 Satz 1 AO habe der Beklagte ermessenswidrig gehandelt, da er Musterverfahren vor dem EGMR nicht als wichtigen Grund gesehen habe. Im Übrigen sei der Beklagte bei seiner Entscheidung nicht auf den Fall des Klägers eingegangen, sondern habe unter Berücksichtigung einer Anweisung der Oberfinanzdirektion die gleiche Begründung angeführt, wie dies in allen anderen Fällen geschehe.
Jedenfalls müsse das Gericht das Klageverfahren aussetzen bzw. zum Ruhen bringen, bis der Bundesfinanzhof (BFH) in dem Verfahren X B 183/11 entschieden habe.
Der Kläger beantragt,
die Einspruchsentscheidung vom 25.10.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, darüber erneut zu entscheiden, das Einspruchsverfahren nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO, hilfsweise nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO ruhen zu lassen, bis der EGMR in Sachen 7258/11 und 7227/11 entschieden hat,
hilfsweise, das Gerichtsverfahren auszusetzen oder zum Ruhen zu bringen, bis der BFH im Verfahren X B 183/11 entschieden hat.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte bleibt bei seiner im Einspruchsverfahren gegebenen Begründung, wonach die Voraussetzungen für ein Ruhen dieses Verfahrens nicht gegeben waren.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
Die Einspruchsentscheidung des Beklagten war nicht aufzuheben, da deren Erlass entgegen der Auffassung der Klägerin nicht rechtsfehlerhaft bzw. ermessenswidrig war. Bei dieser Entscheidung des Gerichts war zu beachten, dass eine Ermessensentscheidung gemäß § 102 FGO nur auf Ermessensfehler zu prüfen ist. In Bezug auf das bereits im Einspruchsverfahren geäußerte Begehren des Klägers, das Einspruchsverfahren gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO zum Ruhen zu bringen, sind Ermessensfehler nicht ersichtlich. Der Beklagte hat zutreffend bereits die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift verneint, so dass Raum für eine Ermessensentscheidung nicht gegeben war. Die Entscheidung des Beklagten, § 363 Abs. 2 Satz 2 AO nicht im Sinne des Klägers auszulegen, ist Teil der Rechtsanwendung und fällt nicht in den Ermessensbereich der Finanzbehörde.
Nach § 363 Abs. 2 Satz 2 ist ein Einspruchsverfahren zum Ruhen zu bringen, wenn wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren bei dem Europäischen Gerichtshof (...