Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufrechnung im Insolvenzverfahren
Leitsatz (redaktionell)
1) Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens wird eine bestehende Aufrechnungslage und ein darauf beruhendes Aufrechnungsrecht nicht berührt.
2) Die Aufrechnung ist auch insoweit zulässig, als die Aufrechnung auf einen Lohnsteuererstattungsanspruch entfällt, der nach § 36 Abs. 1 EStG erst nach Verfahrenseröffnung entsteht.
Normenkette
BGB § 387; InsO §§ 94-96; EStG § 36; AO § 226
Tatbestand
Der Kläger wurde mit Beschluss des Amtsgerichts L vom … – 01 IK 01/17 über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Frau M (nachfolgend: Schuldnerin) zum Insolvenzverwalter bestellt. Zugrunde lag der Eigenantrag der Schuldnerin vom 15.07.2017.
Die Schuldnerin, die bei der Q beschäftigt ist, wurde vom Beklagten für die Jahre 2010, 2011 und 2012 sowie 2015, 2016 und 2017 zur Einkommensteuer veranlagt.
Für die Veranlagungszeiträume 2010, 2011 und 2012 ergaben sich nach Abschluss einer Außenprüfung für die nebenberufliche Tätigkeit der Schuldnerin als selbständige Baufinanzierungsbetreuerin Nachzahlungsbeträge. Die entsprechenden Steuerbescheide ergingen am 04.05.2015. Die Nachzahlungsbeträge sind unstreitig und wurden von der Schuldnerin nicht gezahlt. Gehaltspfändungen beim Arbeitgeber der Schuldnerin führten nach Angaben des Klägers in dessen Schreiben vom 21.09. und 11.10.2017 zu einer Tilgung der Rückstände um 3.396,03 EUR bzw. 11.073,97 EUR.
Mit Bescheiden vom 22.05.2017 wurde die Schuldnerin für die Jahre 2015 und 2016 zur Einkommensteuer veranlagt. Es ergaben sich Erstattungsbeträge von insgesamt 2.127,84 EUR für 2015 bzw. 3.900,78 EUR für 2016. Die Erstattungsbeträge rechnete der Beklagte mit den Rückständen aus der Einkommensteuer 2010, 2011 und 2012 auf.
Mit weiterem Bescheid vom 30.07.2018, der dem Kläger bekanntgegeben wurde, wurde die Schuldnerin für das Jahr 2017 zur Einkommensteuer veranlagt. Den sich hieraus ergebenden Erstattungsbetrag von insgesamt 2.826,15 EUR, der auf den Steuerabzug vom Lohn zurückzuführen war, hat der Beklagte zeitanteilig aufgeteilt. Den auf den Zeitraum nach Insolvenzeröffnung entfallenden Betrag von 1.296,84 EUR hat der Beklagte an den Kläger ausgekehrt. Den auf den Zeitraum vor Insolvenzeröffnung entfallenden Betrag von 1.556,31 EUR hat der Beklagte mit den Rückständen der Schuldnerin aus der Einkommensteuer 2012 aufgerechnet.
Aufgrund der Einwendungen gegen die Aufrechnungen hat der Beklagte gegenüber dem Kläger am 31.01.2019 die streitgegenständlichen Abrechnungsbescheide über Einkommensteuer 2010, 2011 und 2012 erlassen, mit denen er die Erstattungsansprüche der Schuldnerin als durch Aufrechnung getilgt feststellte. Die Einspruchsverfahren waren erfolglos. Wegen Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidungen vom 05.06.2019 Bezug genommen.
Mit der vorliegenden Klage vom 05.07.2019 macht der Kläger geltend, dass die Aufrechnungen unzulässig seien. Die Abrechnungsbescheide seien aufzuheben und die Guthaben aus den Jahren 2015, 2016 und 2017 an ihn auszukehren. Die dadurch wieder auflebenden und dem Grunde nach unstreitigen Steuer- und Zinsforderungen aus den Jahren 2010, 2011 und 2012 seien als Insolvenzforderungen zur Insolvenztabelle anzumelden. Der Kläger begründet seine Auffassung im Wesentlichen damit, dass die gegenseitigen Forderungen nach der bürgerlich-rechtlichen Regelung des § 389 BGB – unabhängig von der Fälligkeit der Hauptforderung – zwar bereits in demjenigen Zeitpunkt als erloschen gälten, in welchem sie sich erstmalig aufrechenbar gegenübergestanden hätten. Nach den steuerrechtlichen Regelungen gehe die Rückwirkung der Aufrechnung jedoch nicht über den Zeitpunkt der Fälligkeit des aufgerechneten Erstattungsanspruchs hinaus. Dieses steuerrechtliche Verständnis, wonach eine Aufrechnung der Finanzbehörde gegen Erstattungsansprüche des Steuerschuldners ihre Rechtswirkungen erst mit Fälligwerden der Erstattungsansprüche entfalte, habe in § 238 Abs. 1 Satz 3 der Abgabenordnung (AO) und § 240 Abs. 1 Satz 5 AO Eingang in das Gesetz gefunden und gehe den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften der §§ 387 ff. BGB gemäß § 226 Abs. 1 letzter Halbsatz AO nach dem Willen des Steuergesetzgebers ausdrücklich vor. Für den Streitfall bedeute dies, dass die Aufrechnungen des Beklagten ihre Wirkungen nicht bereits im Zeitpunkt des Entstehens der jeweiligen Erstattungsansprüche – also mit Ablauf der Veranlagungszeiträume 2015, 2016 und 2017 – hätten entfalten können, sondern nur und erst nach Festsetzung der jeweiligen Erstattungsansprüche durch den Beklagten mit Bescheiden vom 22.05.2017 bzw. 30.07.2018, da die Erstattungsansprüche gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erst mit Bekanntgabe des maßgeblichen Steuerbescheids fällig geworden seien.
Neben den steuerrechtlichen Besonderheiten seien im Streitfall aufgrund des am 21.07.2017 eröffneten Insolvenzverfahrens insbesondere die Vorschriften der §§ 94 bis 96 der Insolvenzordnung (InsO) über die Aufrechnung im Insolve...