Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldberechtigung, Erfüllung der Unterhaltspflicht, Auszahlung an das Kind
Leitsatz (redaktionell)
1) Die Kindergeldberechtigung stellt nur auf die Erfüllung der sachlichen und persönlichen Kindergeldvoraussetzungen ab. Die Erfüllung der gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung ist nicht maßgeblich.
2) Der Anspruch aus dem steuerlichen Dauerschuldverhältnis "Kindergeld" erlischt gemäß § 47 AO sowohl durch die monatliche Auszahlung an den originär Kindergeldberechtigten wie auch bei Zahlung an das abzweigungsberechtigte Kind i.S.v. § 74 EStG.
3) Die Entscheidung über die Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 AO ist eine Ermessensentscheidung auf der Rechtsfolgenebene. Die Familienkasse handelt bei einer Auszahlung an den originär Kindergeldberechtigten nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie im Zeitpunkt der Kindergeldzahlung keine Kenntnis von den fehlenden Unterhaltszahlungen an das Kind hatte.
4) Eine nachträgliche Kindergeldzahlung an das Kind ergibt sich nicht aus den gemeinschaftsrechtlichen Regelungen der Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 (EWGV Nr. 1408/71) und Nr. 574/72 (EWGV 574/72). Im Übrigen bestehen auch keine Zweifel an der Vereinbarkeit von § 74 EStG mit dem Recht der Europäischen Union.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1; AO §§ 5, 47; EU-Verordnung Nr. 1408/71, Nr. 574 / 72; EStG § 62 Abs. 1
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger das für die Monate Juli 2002 bis Februar 2006 bereits an seinen Vater ausgezahlte Kindergeld auf sich abzweigen und von der Beklagten Zahlung an sich verlangen kann.
Der inzwischen in Belgien lebende Kläger ist der im Juni 1983 als drittes Kind geborene Sohn des Herrn V. Dieser hatte im Juni 2002 die Weiterzahlung des Kindergelds beantragt, weil der Kläger die Aufnahme eines Studiums beabsichtige. Mit Bescheid vom 28. Juni 2002 setzte der Beklagte das Kindergeld gegenüber V entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen fest. Im Juli 2002 verzog der Kläger nach Frankreich, um in der Stadt Q Jura zu studieren. Ende Oktober 2002 erhielt V vom Kläger seine Studienbescheinigung und V leitete diese mit einem am 4. November 2002 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben an diese weiter (Kindergeldakte, Bl. 215). Die Kindergeldzahlungen erfolgten vor diesem Hintergrund weiter an V. Eine weitere Bescheinigung über die Fortsetzung des Studiums übersandte V im Januar 2003 an die Beklagte, nachdem der Kläger diese Bescheinigung von der französischen Universität ausgefüllt an V zurückübermittelt hatte (Kindergeldakte, Bl. 218). Im Juni 2003 übersandte V eine vom Kläger unterschriebene Erklärung zu dessen Einkünften und Bezügen an die Beklagte (Kindergeldakte, Bl. 228).
Am 19. Juli 2003 heiratete der Kläger in Frankreich. Der Kläger gibt an, während des gesamten Streitzeitraums von seinen Eltern keinen Unterhalt erhalten zu haben; lediglich in der Zeit von September 2003 bis August 2004 habe ihm sein Vater monatlich 150 EUR überwiesen. Eine Einforderung von Unterhaltsleistungen gegenüber V ist im Streitzeitraum nicht erfolgt. Das Kindergeld für den Kläger bis einschließlich Februar 2006 wurde unstreitig an V ausgezahlt.
Mit einem im August 2005 bei der Beklagten eingegangenen Antrag beantragte die in der Stadt C lebende Schwester des Klägers, die auch seine Zustellungsbevollmächtigte ist, wegen fehlender Unterhaltsgewährung die Auszahlung des Kindergelds an sich selbst (Kindergeldakte, Bl. 279). V bestätigte die Angaben seiner Tochter, wies aber auf die Möglichkeit der Unterhaltsgewährung durch Sachleistungen hin (Zimmer, Dusche, Küchenbenutzung, voller Kühlschrank und eine Mutter, die wasche, koche und psychosoziale Betreuung leiste). Darauf hin zog die Schwester des Klägers ihren Antrag wieder zurück (Kindergeldakte, Bl. 287, 288).
Im November 2005 übersandte der V auf Anforderung der Beklagten eine weitere Studienbescheinigung für den Kläger, die dieser an V übermittelt hatte.
Mit einem am 31. Januar 2006 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben beantragte der Kläger unter Hinweis auf die Verordnungen EWG Nr. 1408/71 und Nr. 572/72 erstmals die Auszahlung des Kindergelds an sich selbst unter Hinweis auf die fehlende Unterhaltsleistung seines Vaters, und zwar rückwirkend für die Zeit ab Juli 2002 (Kindergeldakte, Bl. 301). Nach Art. 75 dieser Verordnung sei das Kindergeld direkt an die Person auszuzahlen, die tatsächlich für den Unterhalt des Kindes aufkomme, wenn die Eltern das Kind nicht unterhielten und auch das Kindergeld nicht direkt dem Kind zukommen ließen.
Die Beklagte stellte die Zahlung des Kindergelds an V sogleich ein, konnte aber die Auszahlung des Kindergelds für den Monat Februar an V nicht mehr verhindern. Im Rahmen seiner Anhörung widersprach V den Angaben des Klägers nicht, erklärte jedoch – wie bereits beim Antrag der Schwester des Klägers –, der Kläger habe weiterhin die Möglichkeit in seinem Haushalt zu wohnen und dort verpflegt zu werden (Zimmer, Dusche/WC, Küchenbenutzung, etc.; Kindergeldakte, Bl. 308). Nachweise über das ...